Dr. Ohio und der zweite Erbe
weichen Kreideboden geschlagen worden waren. Und es wäre tatsächlich schwierig bis unmöglich, sie zu Fuß zu erkunden.
Meistens waren die Gänge im rechten Winkel zueinander angeordnet. Es gab ein paar Haupttrassen, auf denen auch das Bähnchen fuhr, und unzählige Nebengänge, die 50 oder 100 Meter weiter in einem dumpfen, lichtlosen Dunkel versanken, das Champagner, aber auch alle möglichen Albträume der Welt beinhalten konnte. Die Hauptgänge waren erleuchtet vom kalten, ab und zu nervös zuckenden Licht schmutzig weißer Neonröhren.
Erika und Dr. Ohio hielten sich an Boris und stiegen vorne in den ersten Wagen des Zügchens. Wieri setzte sich allein ganz nach hinten in den letzten Wagen. Er wollte die Örtlichkeit erst einmal studieren, aber er spürte, dass sie sich vorzüglich für sein Vorhaben eignen würde. Hier unten würden sie ihm nicht entgehen. Der Zug ruckte an und Boris begann seinen Vortrag. Wieri hörte nichts, oder nur so viel, wie nötig war, um sicherzugehen, dass sein Opfer sich noch im Zug befand, das heißt, das gleichmäßige Rauschen von Boris’ Stimme. Er versuchte, sich den Weg und die Anordnung der Gänge einzuprägen. Denn würde er sich hier verirren, dann konnte er wahrscheinlich verhungern, bevor jemand ihn fand. Das Einzige, was einem hier unten in der Nacht begegnen konnte, waren seine eigenen Dämonen. Wenn man Glück hatte.
Sie waren schon ein Stück gefahren, als er bemerkte, dass der vordere Wagen des Zugs immer schon um eine der scharfen Ecken gebogen war, bevor die hintersten folgten. Das würde ihm Gelegenheit geben, unbemerkt aus dem Wagen zu springen. Die Leute hatten sich alle möglichst weit vorne in die Wagen gedrängt. Wenn alles glattlief, könnte er also abspringen, einen Gang entlanglaufen, ein paar gezielte Schüsse auf Boris abgeben und unbemerkt wieder hinten einsteigen. Endlich. Dabei fiel ihm ein, dass in diesem Fall auch Dr. Ohio und Erika daran glauben mussten. Denn wenn die Polizei kam und er hinten im Wagen saß, war die Verbindung schnell hergestellt.
Er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, und hatte es auch nicht vor. Eine so gute Gelegenheit würde nicht wiederkommen. Im Notfall konnte er auch in den Gängen verschwinden. Solange er sich nicht zu weit weg vom Licht bewegte, würde er schon wieder zurückfinden. Ein Heide und eine Ketzerin mehr, was soll’s, dachte er zähneknirschend. Die Bahn bog um eine Ecke. Jetzt oder nie. Wieri sprang aus dem Wagen und verschwand in einem der seitlich abzweigenden Tunnel, ohne dass jemand es bemerkte.
Das Bähnchen ratterte weiter und Wieri hörte, wie Boris’ Stimme schnell verflog. Er riss den Revolver aus der Tasche und stürzte vorwärts, ohne sich weiter umzusehen. Aber schon nach ein paar Metern musste er langsamer gehen. Dunkelheit umfing ihn und auf einmal hörte er überdeutlich Schritte und hastigen Atem. Er wandte sich um, aber es war niemand zu sehen. Die Schritte und der Atem waren seine eigenen, zurückgeworfen von den kahlen, aschgrauen Kreidewänden. Von ferne hörte er die Geräusche der Bahn. Panik durchzuckte ihn, aber nur kurz. War da vorne nicht ein Licht? Er musste seinen Plan ausführen, er musste sich würdig erweisen ... und ... gab es nicht die Berichte von Nahtoderfahrungen, bei denen die Betroffenen von einem starken Licht am Ende des Tunnels berichteten? Natürlich. War das nicht so etwas, wie neu geboren werden? Und stand er nicht gerade im Begriff, neu geboren zu werden?
Er hetzte weiter, vorbei an mehreren Seitentunneln, die er links liegen ließ. Vorne, der direkte Weg geradeaus, das war der richtige. Er betete darum, dass die Bahn noch nicht vorbeigefahren war. Sein Herz klopfte, vor Anstrengung, aber auch vor Freude, als er am anderen Ende des Gangs auf die große Haupttrasse des Kellers und die Schienen stieß. Sie mussten hier vorbeikommen. Schnell zog er sich wieder einige Meter in den Seitentunnel zurück, aus dem er gestolpert war, und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Das lächerliche Ausflugsbähnchen mit den Champagner-Touristen kam näher und das Klappern und Rattern der Räder auf den Schienen erinnerte an eine Spielzeugeisenbahn. Schon konnte er Boris’ Stimme hören und in den nächsten Sekunden würden sie an ihm vorbeifahren.
Er versuchte, sich die ungefähre Höhe vorzustellen, auf der Boris stehen würde, und zielte, als die Bahn auch schon herankam. Sie war nicht schnell, aber schneller als gedacht, und er musste einige Schritte machen,
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