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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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strömen, als ich mit hochgezogenen Schultern dahinging. All meine Gefühle – Wut, Verzweiflung, Verachtung, Rachsucht – lagen ineinander verknäult in meinem Magen wie ein Haarball. Vor dem Haus, in dem Corcoran wohnte, stand kein gelbes Cabriolet, und alle Fenster waren dunkel. Ich blieb zwei Stunden oder länger dort stehen, dann drehte ich mich um und ging besiegt nach Hause.
    Muß ich eigens erwähnen, daß Iris nicht da war? Das Gedicht lag unberührt dort, wo ich es hingelegt hatte, und soviel ich weiß, blieb es auch da, die ganze Nacht und den nächsten Morgen. Ich habe keine Ahnung, wann sie in jener Nacht nach Hause kam oder ob sie überhaupt nach Hause kam, denn ich packte ein paar Sachen – Wäsche, Waschzeug, eine Decke – in einen Koffer und schleppte mich wieder ins Büro, um dort auf dem Boden zu schlafen, während das sonst menschenleere Gebäude, eines der ältesten auf dem Campus, ächzend und seufzend einen Zustand offenbarte, der mich unwillkürlich an den meinen erinnerte. Ich war noch keine vierundzwanzig, und doch war mein Leben bereits vorüber. Ich sagte mir, daß ich in den Krieg hätte ziehen sollen, um zu töten und getötet zu werden, denn alles war besser als das hier.
    Das Gedicht war übrigens von Hardy, gallenbitter und grimmig wie kaum ein anderes. Heute erscheinen mir die darin ausgedrückten Gefühle und die große Geste ein bißchen halbgar, doch damals traf es genau das, was ich empfand. Es heißt »Neutrale Töne«, und der Sprecher blickt zurück auf einen trostlosen Tag, an dem am Ufer eines zugefrorenen Teichs das Lächeln auf den Lippen seiner Geliebten erstarb. Ich hatte die letzten vier Zeilen abgeschrieben:
    Daß Liebe f ußt aufFalsch, daß sie der Falschheit Raub, Das hat seither Dein Antlitz mir entstellt Wie auch den Baum, die gottverlass’ne Welt Und einen Teich, umringt von fahlem, grauem Laub.
    Ich verbrachte zwei Nächte im Büro und ging tagsüber nicht mal in die Nähe unserer Wohnung. Wenn Iris mich leiden lassen wollte – ich konnte sie auch leiden lassen. Sollte sie doch im eigenen Saft schmoren, dachte ich, sollte sie doch schmoren, bis ihr so übel war wie mir. Aber wo war Corcoran? Am ersten Morgen erwartete ich ihn mit trockener Kehle und einem Pochen in den Schläfen, das durch wiederholte Hormonausschüttung ausgelöst war, doch es wurde acht, es wurde zehn nach acht, und schließlich fragte ich Prok so beiläufig wie möglich: Wo isteigentlich Corcoran? Prok sah kaum auf. Er habe ganz vergessen, mir zu sagen, daß er meinem Kollegen zwei Tage freigegeben habe, damit dieser sich um eine private Angelegenheit kümmern könne. Mehr erfuhr ich nicht, und für den ganzen Rest des Tages blieb Prok in seine Arbeit versunken. Es gab keine Unterhaltungen, keine scherzhaften Bemerkungen, und die einzige Abwechslung von der täglichen Routine kam, als wir mit zwei jungen Frauen, die sich um eine Stelle als Vollzeitsekretärin bewarben, Einstellungsgespräche führten und sie anschließend einzeln nach ihrer Sexualgeschichte befragten.
    Als ich am Ende des zweiten Tags noch immer nichts von Iris gehört hatte, ging ich zurück zu unserer Wohnung. Ich war vorsichtig, ich achtete auf Zeichen, ich näherte mich den Stufen der Vortreppe mit den langsamen, behutsamen Bewegungen eines Kundschafters, als wäre das Haus von abrückenden feindlichen Soldaten vermint worden. Das erste, was mir auffiel, war die Milch: Zwei Flaschen standen unberührt nebeneinander in der isolierten Kiste auf der Vorderveranda. Das Radio schwieg, es brannte kein Licht. Mir sank das Herz. Ich drehte den Schlüssel im Schloß und trat ein. Es roch nach nichts, wie in einer Grabkammer, wie in einem Raum, der leer war und vielleicht nie mehr bewohnt werden würde. Es war, als wären die Menschen, die hier gelebt hatten, dieses nette junge Paar, einfach verschwunden, als hätte man sie entführt, um ein Lösegeld zu erpressen, und als wüßte man nicht, ob das Geld je aufgebracht werden könnte.
    Iris’ Kleider waren noch da, im Schrank, auch ihre Bürsten und Cremes, ihr Shampoo – es war alles da. Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, während deren ich in einer Art stumpfer Verzweiflung herumstöberte, bis ich merkte, daß das Gedicht verschwunden und durch ein anderes ersetzt worden war (ich weiß bis heute nicht, woher sie es hatte):
    Nie wieder werde ich dir sagen, was ich denke, Ich werde lieb und listig sein, sanft und verschlagen... Und eines Tages, wenn du klopfst und

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