Dr. Sex
irgendwelche Schlafzimmer gehen, oder? Hallo?« rief er dem Barmann zu und machte eine kreisende Handbewegung, um anzuzeigen, daß eine weitere Runde gewünscht wurde. »Also wie dann? Machen Sie Umfragen und so?«
Bestimmt haben Sie das Spiel bereits durchschaut: Ich wurde ausgehorcht, und zwar von einem Altmeister. Fred Skittering war, wie sich herausstellte, Kriegsberichterstatter gewesen und hatte sich mit seinen Reportagen vom europäischen Kriegsschauplatz einen gewissen Namen gemacht, einen Namen, den ich in einem anderen Zusammenhang vielleicht erkannt hätte. Doch hier, in Bloomington, in dieser kleinen Kneipe, die ich seit meiner Studentenzeit frequentierte, ging er völlig an mir vorbei. Skittering stand an der Theke und arbeitete für Associated Press, aber das wußte ich nicht, und den Köder hatte ich bereits geschluckt. »Umfragen?« Ich zuckte verächtlich die Schultern. »Umfragen sind so gut wie nutzlos. Denken Sie doch mal nach: Wer soll die Angaben kontrollieren? Sie kriegen per Post irgendeinen Fragebogen, und den füllen Sie dann aus oder auch nicht, und wenn Sie’s tun, sind Sie aufrichtig und ehrlich oder auch nicht, wer kann das schon wissen. Nein, unsere Methoden« – ich senkte meine Stimme – »sind wissenschaftlich und statistisch so zuverlässig wie nur möglich.«
Die Zeit verging. Es herrschte ein Kommen und Gehen. Vor den Fenstern, am Ende der Straße, wo die Bäume aufhörten, zuckten Blitze über den Horizont. Ich war nie ein besonders redseliger Mensch, der einem ein Ohr abquatschte, wie unsere Probanden aus der Unterschicht es ausgedrückt hätten, aber an jenem Abend konnte ich gar nicht mehr aufhören zu reden. Vielleicht lag es an meiner Gemütsverfassung. Am Wetter. An Iris. Vielleicht redete ich einfach gern über meine Arbeit – ich war überaus stolz auf das, was Prok, Corcoran, Rutledge und ich geschafft hatten, vier gegen den Rest der Welt, und dennoch war ich auch frustriert, weil wir unsere Funde bisher unter Verschluß gehalten hatten. Und hier hatte ich verständnisvolle Zuhörer. Hier waren Elster und dieser Fremde und hörten mir zu. Wie hätte ich etwas Böses ahnen sollen?
Betty war es, die mich rettete. Ich war im Begriff, unser Projekt zu gefährden, Proks Vertrauen in mich zu untergraben, mich selbst auf die profundeste und hoffnungsloseste Weise bloßzustellen, als Abtrünniger, als Kollaborateur, als nützlicher Idiot – doch dann kam Betty. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie im vergangenen Herbst bei der Demonstration in Proks Speicherzimmer die weibliche Hauptrolle gespielt hatte, und konnte mich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Sie trat in Begleitung einer anderen jungen Frau ein. Beide waren lässig gekleidet, als wären sie Studentinnen oder wollten als solche gelten. Ich sah auf, unsere Blicke begegneten sich, und dann glitt sie mit einer eleganten Bewegung in eine Nische am anderen Ende des Raums – sie strich mit der Hand über die Rückseite der Oberschenkel, um den Rock zu glätten, bevor sie über das blanke Holz der Bank rutschte. Skittering sagte etwas über eine andere SexUntersuchung, von der er gehört hatte – war das nicht in Dänemark gewesen? –, während Elster (sein Scout? sein Judas?) mit aufgestützten Ellbogen dasaß und mich ansah.
Ich bemerkte, daß die Frau – Betty, mit einem Mal fiel mir ihr Name ein – mich anblickte, als die Kellnerin zwei Martinis auf den Tisch stellte. Sie lächelte, als sie sah, daß ich sie erkannt hatte: die Kinderaugen in diesem Frauengesicht, die ausgeprägten Wangenknochen, die scharfen Zähne, das Haar, das hochgesteckt war und in vielen Locken über ihre Schultern fiel. Ich lächelte zurück, als Skittering gerade sagte: »Aber dieser Kinsey – wie ist es eigentlich, mit ihm zu arbeiten?«, und weil ich betrunken war, hob ich mein Glas und prostete ihr quer durch den Raum zu.
Dann war ich wieder in der Gegenwart und sah Elsters Gesicht – das Gesicht eines Saboteurs, nicht das eines Freundes, eines Menschen, der es gut mit einem meint – in einem ganz neuen Licht. Ich sah Skittering an, und plötzlich war mir alles klar. Skittering hatte mit Elster gesprochen, und Elster hatte mit mir gesprochen, und sie wollten keine Statistiken, sondern etwas Tieferes, Gefährlicheres. Ich zuckte die Schultern. »Ein Genie«, sagte ich. »Ein großer Mann. Der größte, den ich kenne.«
»Ja, aber« – die Zigarette im Mund, eine lässige Handbewegung zum Aschenbecher – »wie sieht’s
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