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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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zweiundzwanzig Seiten, wenn ich mich recht erinnere) seine eigene, einigermaßen konfuse, aber libertäre Sexphilosophie vor uns ausbreitete. Die beiden fanden, kurz gesagt, daß Sex eine der grundlegenden Freuden des Lebens war und daher ohne Beschränkungen genossen werden sollte, und da sie einen starken Sexualtrieb hatten, schliefen sie seit ihrer Heirat vor sechs Jahren zwei- bis dreimal täglich miteinander und behaupteten, dies sei sowohl ihrer geistigen als auch ihrer körperlichen Gesundheit überaus zuträglich. Der beigefügte Film würde, wie sie hofften, nicht nur die ungezügelte Freude zeigen, die sie bei dieser Aktivität empfanden, sondern auch eine wichtige Ergänzung unseres Archivs sein. Der Brief schloß: »Machen Sie freien Gebrauch von dem Film – er sollte einem breiten Publikum zugänglich sein.« Und er war unterschrieben: »Zwei Glückliche in West Palm Beach.« Für den Fall, daß wir wegen einer Live-Demonstration mit ihnen in Kontakt treten wollten, hatten sie eine Adresse und Telefonnummer angegeben.
    Wir waren an unsere Schreibtische zurückgekehrt, behielten aber Prok im Auge, während er den Brief las. Anfangs zeigte er keine Reaktion, sein Gesichtsausdruck blieb mürrisch und angespannt, und er hatte die Brille fest auf die Nase gedrückt, doch schließlich begann er zu lächeln und zu schmunzeln. »Hört euch das an«, rief er. In seiner Stimme war die alte Begeisterung, als er aus dem Brief zitierte und die beiden letzten Seiten vorlas. Dann hob er die Filmdose hoch, so daß alle sie sehen konnten, als wäre sie ein Beweisstück, er der Richter und wir die Geschworenen. Er lächelte, er grinste breit – es war das alte Grinsen, das uns in letzter Zeit so gefehlt hatte: der verführerische, jungenhafte, unbekümmerte echte Prok. »Was meint ihr?« sagte er, und selbst Mrs. Matthews hielt in ihrem wütenden Angriff auf die Schreibmaschinentasten inne. »Eigentlich könnten wir doch heute nach Feierabend noch ein bißchen bleiben und hier im Institut eine kleine Privatvorstellung veranstalten. Corcoran? Rutledge? Milk? Irgendwelche Einwände?«
    Nein, keine Einwände.
»Gut«, sagte er. »Gut. Wir werden also unsere Frauen anrufen und ihnen sagen, daß wir etwas später zu Abend essen.« Das Grinsen war verschwunden, nicht einmal in den Augen war noch eine Spur davon. »Im Dienst der Wissenschaft«, sagte er und wandte sich wieder der Arbeit zu.
Ich rief Iris an und sagte ihr, ich würde später kommen, es sei neues Material aufgetaucht, ja, noch einer von diesen Naturfilmen, auf die Prok so scharf war, und dann sah ich den Zeigern der Uhr zu, bis es fünf war und Mrs. Matthews ihren Tisch aufräumte, die Schutzhaube über die Schreibmaschine zog und ging. Prok blickte nicht auf. Er war beschäftigt, er beugte sich über einen Kommentar zu einem Prozeß, den er in letzter Zeit interessiert verfolgt hatte (in Pennsylvania stand ein Mann, das Opfer eines antiquierten, barbarischen Gesetzes, vor Gericht, weil er seine Frau oral befriedigt hatte), und außerdem wollte er nicht den Eindruck erwecken, als hätte er es eilig, den Film zu sehen, doch an gewissen charakteristischen Gesten – er tippte mit dem Bleistift auf den Rücken des vor ihm liegenden Buchs, er fuhr sich mehrmals durch die Haare – erkannte ich, daß er ihm ebenso entgegenfieberte wie wir.
Schweigend arbeiteten wir noch eine Viertelstunde weiter und wechselten Blicke, bis Corcoran sich schließlich mit einem Seufzer erhob und ausgiebig reckte. »Tja«, sagte er, »Oscar, John, was meint ihr – ist es nicht langsam Zeit?«
Prok sah auf und warf einen Blick auf seine Uhr.
»Prok? Wie sieht’s aus?«
Der Film war von überraschend guter Qualität, und da beide Partner durchgehend im Bild waren, stellte sich die interessante Frage, wer denn wohl gefilmt hatte. Die Vorstellung erwies sich als ebenso freizügig und variationsreich wie die an jenem Abend, als Corcoran uns mit Betty bekannt gemacht hatte. Aber das hier war anders, ganz anders. Ich bin kein Filmfachmann und bestimmt nicht der erste, der das sagt, aber in der Distanz und Anonymität des Zuschauens war etwas, das die stimulierende Wirkung noch erhöhte. In natura – bei Corcoran und Betty oder bei Ginger und ihren Freiern – hatte es immer eine gewisse Unsicherheit und Zerbrechlichkeit gegeben, wie bei einer Theatertruppe, wenn eine einzige Geste, ein einziger Kommentar aus dem Publikum den Zauber zerstören und alles zum Einsturz bringen kann.
Das war hier

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