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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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dies die richtige Adresse war. Einladungen machten mich immer befangen – ich fürchtete, ich könnte das Datum oder die Adresse verwechselt haben, ich hatte Angst, die Gastgeber würden mich nicht erkennen oder hätten vergessen, daß sie mich eingeladen hatten. Ich weiß, das war dumm, aber schon als Kind in Michigan City war es mir so gegangen: Ich hatte mit einem Baseballhandschuh oder einem Basketball vor der Tür eines Freundes gestanden wie schon tausendmal zuvor, und mit einem Mal war ich überzeugt davon, daß er mich fortschicken würde, daß er etwas Scharfes, Verletzendes sagen und mich wie einen streunenden Hund verjagen würde. Und es half mir kein bißchen, daß ich mich unsicher fühlte in Gegenwart dieses Professors in mittleren Jahren und seiner Frau. (Wer immer sie sein mochte, ich hatte Angst vor ihr und dem, was sie über mich denken würde, und befand mich in einem Zustand zunehmender Panik bei dem Gedanken an die anderen Gäste – vielleicht war auch der Bürgermeister eingeladen oder mein Literaturprofessor oder der Rektor der Universität.) Was sollte ich zu ihnen sagen? Was sollte ich tun?
    Warum hatte ich diese Einladung überhaupt angenommen? Es war wie der Augenblick mit Laura Feeney im Korridor vor dem Saal, wo die Einschreibung stattfand, ein Augenblick, der einem eine Wahl zu lassen schien, in Wirklichkeit aber das Ergebnis von Umständen war, die einen mit derselben Entschiedenheit an eine bestimmte Entwicklung banden, mit der Prok seine Cynipoideen in den Schmitt-Kästen feststeckte. Sie mögen es Schicksal nennen, aber ich will nicht den Eindruck erwecken, als wollte ich hier irgendeine Art von metaphysischer oder mystischer Verbindung herstellen; ich habe die letzten sechzehn Jahre mit Prok verbracht und keinerlei Sinn für Mystik. Ich hatte mich entschieden. Ich hatte ja gesagt, wie ich später, ob ich wollte oder nicht, zu vielen anderen von Proks Einladungen ja sagen würde. Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich, daß Prok eine Vaterfigur für den jungen Mann war, dessen eigener Vater schon lange tot war, und daß er ein starker, überzeugender Mann war – ihm schlug niemand etwas ab –, aber es ging noch darüber hinaus. Ich fühlte mich geschmeichelt. Er hatte mich erwählt – ich hatte ihn beeindruckt – , und darum hatte ich meine erste Verabredung mit Iris platzen lassen, um an diesem Samstagabend im Februar bei den Kinseys zu sein.
    Doch ich mußte mich vergewissern, daß ich an der richtigen Adresse war, denn das Haus sah so – wie soll ich sagen – ungewöhnlich aus. Von der Straße aus, umschlossen von Dunkelheit, wirkte es wie ein Lebkuchenhaus, wie irgend etwas aus einem Märchen, die Behausung eines Zauberers, eines Kobolds. Der mit Ziegelsteinen gepflasterte Weg führte in Windungen zwischen Stauden und Büschen hindurch (Proks gärtnerisches Credo lautete: »Die gerade Linie erfreut den Stadtplaner, die gewundene den Gärtner«), und obgleich man merkte, daß eine Absicht dahintersteckte und der Weg tatsächlich zur Eingangstür führte, war die Wirkung überraschend natürlich. Was das Haus betraf, so waren alle Fenster erleuchtet. Das Dach hatte einen Stufengiebel und war mit Schindeln gedeckt, und die Mauern bestanden aus seltsam geformten Ziegelsteinen (Ausschußware, die Prok billig bekommen hatte), zwischen denen große Mörtelwülste hervorquollen wie Verzierungen auf einer zusammensackenden Torte. Das sollte das Haus eines Wissenschaftlers sein? Ich konnte es nicht glauben. Ich war sicher, daß ich vor dem falschen Haus stand – ich hatte mich verhört oder die Zahlen der Hausnummer vertauscht –, doch inzwischen war ich an der Tür angelangt, es war spät, und mir blieb nichts anderes übrig, als den Käse (einen Stilton, der annähernd zehn Pfund wog) unter den Arm zu klemmen, tief durchzuatmen und den Türklopfer zu heben.
    Eine Frau öffnete – oder vielmehr ein weiblicher Mensch, wie Prok gesagt hätte. Sie war winzig, wirkte wie ein Kind, und ihr Haar, noch schwärzer als das von Iris, war zu einem Bubikopf geschnitten, der die Ohren frei ließ. Sie sah mich mit einem wunderschönen ungezwungenen Lächeln an, während sie mit ihrer kleinen Hand die Tür aufhielt.
    »Ich bin ... Ich wollte ... Bin ich hier richtig bei Professor Kinsey?
    Oder ...«
»Ich bin Clara«, sagte sie und nahm mir den Käse ab. »Und Sie müssen John sein. Aber kommen Sie doch herein. Prok hat noch irgendwas zu erledigen, aber er wird sicher gleich dasein.«
Sie

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