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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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führte mich ins Wohnzimmer, das so unkonventionell wie das Äußere des Hauses war. Die Wände waren schwarz gestrichen (oder vielmehr, wie ich später erfuhr, mit schwarzem Tee, der sich nach Proks Meinung dafür besser eignete als Wandfarbe), und die rustikalen selbstgebauten Möbel aus gebogenem Hickoryholz waren ebenfalls schwarz lackiert. Es gab ein Klavier (schwarz), ein paar Regale voller Schallplatten sowie ein Grammophon. Einige im Raum verteilte Lampen ließen die Ecken weicher erscheinen, und im offenen Kamin brannte ein Feuer. Von anderen Gästen war nichts zu sehen.
»Mrs. Kinsey, es tut mir sehr leid, daß ich zu spät komme. Normalerweise passiert mir das nicht, aber, äh ... Ich habe Ihr Haus nicht gleich gefunden, und ...«
»Unsinn«, sagte sie. »Wir geben hier nichts auf Förmlichkeiten, John, wir werden essen, wenn wir hungrig sind, also machen Sie sich keine Gedanken. Und bitte nennen Sie mich Clara. Oder noch besser Mac.« Ihre Stimme war belegt, und sie sprach langsam: Jede Silbe löste sich sanft von der vorangehenden, als wären die Worte Karamelbonbons, die aneinanderhafteten, Zuckerwatte, die noch ein wenig auf den Lippen verweilen wollte. Sie war einundvierzig, Mutter von drei Kindern und keine Schönheit, aber überaus faszinierend, und von diesem ersten Augenblick an hielt sie mich in ihrem Bann. Wir standen mitten im Wohnzimmer auf einem anscheinend selbstgewebten Teppich. Wahrscheinlich betrachtete ich ihn, ohne es zu merken, denn Mac (das war ihr Spitzname, eine Abkürzung ihres Mädchennamens McMillen, so wie Prok die Kurzform von Professor K. war) bemerkte: »Schön, nicht? Hat mein Mann gemacht.« Ich antwortete irgendwas Idiotisches – er sei ein Mann mit vielen Talenten oder so.
Mac lachte auf. Ich fragte mich, wo die Kinder waren, die anderen Gäste, und betete insgeheim, daß keine kommen würden. »Aber was stehe ich da und rede! Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, ob Sie etwas trinken möchten.«
Und ob. Ich wollte einen gut bemessenen Bourbon, damit das Gefühl in Finger- und Zehenspitzen zurückkehrte und meine Zunge ein bißchen lockerer wurde. »Oh«, sagte ich, »ich weiß nicht. Irgendwas.
Vielleicht ein Glas Wasser?«
In diesem Augenblick, wie auf ein Stichwort (doch das ist ein Klischee: Er hatte bestimmt die ganze Zeit im Flur gewartet und uns beobachtet), erschien Prok mit einem Emailletablett, auf dem einige Flaschen und drei langstielige kleine Gläser standen.
»Milk«, rief er, »wie schön, daß Sie da sind! Willkommen, willkommen!« Er stellte das Tablett auf den niedrigen schwarzen Tisch vor dem Kamin und forderte mich auf, mich zu setzen. »Mac haben Sie ja schon kennengelernt. Was ist das hier? Oh, Käse! Wunderbar.
Vielleicht könnte Mac uns noch ein paar Cracker ...? Bitte, Schatz, würdest du uns Cracker bringen? Und jetzt« – er wandte sich wieder an mich – »möchten Sie vielleicht ein Gläschen?«
Er reichte mir eines der Gläser – etwa so groß wie ein Fingerhut – und begann über die verschiedenen Brände und Liköre auf dem Tablett zu dozieren: Diesen hier habe ihm ein Kollege aus Italien mitgebracht, und den da habe Professor Simmonds vom Fachbereich Geschichte in den höchsten Tönen gelobt. Ich brauchte eigentlich nicht viel zu sagen. Nachdem ich an meinem Glas genippt hatte – das Zeug roch stark nach irgendwelchen mir vage bekannten Kräutern und war so pappsüß und dickflüssig wie Melasse –, wurde mir klar, daß meine Annahme richtig gewesen war: Von alkoholischen Getränken hatte Professor Kinsey keinen blassen Dunst. Wir unterhielten uns über den Ehekurs, das heißt über meine Eindrücke davon, als Mac mit einem zweiten Tablett hereinkam, in dessen Mitte mein Stilton lag, umgeben von Salzcrackers.
»Kleine Manöverkritik des Ehekurses«, sagte er und sah sie mit einem Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte. In diesem Moment fiel mir ein, daß er sicher auch ihre Geschichte aufgezeichnet hatte – sie war bestimmt unter den ersten gewesen –, und bei dem Gedanken daran, daß ein Mann seine Frau über ihr Sexualleben ausfragte, durchströmte mich ein eigenartiges Gefühl. Er war, das wusste ich aus eigener Erfahrung, und ich sah es in den folgenden Jahren immer wieder bestätigt, ein Meister in der Kunst der Befragung und akzeptierte nichts Ungefähres. Er war beinahe wie ein menschlicher Lügendetektor und merkte sofort, wenn der oder die Befragte auswich. Mac mußte ihm alles erzählt haben, und das bedeutete, daß

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