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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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und mich in seine Arme schloß. »Hallo, Professor!« rief er und wirbelte mich herum, als wäre ich ein überdimensionales Paket, das er bei einer Tombola verlosen wollte. »Du weißt doch: Es hat keinen Wert, wenn man nichts davon hört!« Alle lächelten, als wäre er soeben verrückt geworden. Und das war er ja auch. Als wir kurz darauf allein in meinem Zimmer waren, zeigte er mir die Ursache seines zeitweiligen Irreseins: einen Flachmann mit Whiskey, sehr praktisch, für die Innentasche eines Sportjacketts. Er reichte ihn mir, und ich trank automatisch einen großen, brennenden Schluck, doch als ich Tommy den Flachmann zurückgeben wollte, winkte er ab. »Sieh dir die Gravur an«, sagte er und sank auf Pauls Bett zusammen, als könnte er sich nicht mehr aufrecht halten.
    Tatsächlich, dort stand in feinen Buchstaben J. A. M. für John Anthony Milk. »Das sind ja meine Initialen«, sagte ich wie ein Idiot.
Tommy betrachtete mich aus Augen, die am Ende zweier langer Tunnel zu liegen schienen. Er hatte stundenlang meiner Mutter und meiner Tante zuhören müssen, und wer konnte ihm einen Vorwurf machen, wenn er nicht mehr ganz nüchtern war? »Genau«, sagte er.
Beim Abendessen waren wir zu fünft: meine Mutter, meine Tante, Tommy, Iris und ich. Das Restaurant war im Erdgeschoß eines Hotels in der Innenstadt (nicht das Hotel, in dem die beiden abgestiegen waren und das sehr viel bescheidener war). Es stand in dem Ruf, das beste in Bloomington zu sein, jedenfalls in jener verschlafenen, provinziellen Vorkriegszeit. Topfpalmen schirmten die Tische gegeneinander ab, der Oberkellner trug seine beste Imitation eines Smokings und hatte es geschafft, seine Haare derart anzuklatschen, daß sie wie eine schwarze Badekappe mit Scheitel wirkten, und auf der Speisekarte standen Zwiebelsuppe au gratin, gegrillte Kalbskoteletts, Weißfisch und natürlich Rindfleisch in allen Variationen. Wir begannen mit Krabbencocktails, bei denen die Krabben hübsch auf Halbkugeln aus Eis drapiert waren, und Tommy und ich bestellten Bier, während die Damen Gin-Fizz tranken. Ich fühlte mich beschwingt. Ich stand nicht nur im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nein, diese Feier fand zu meinen Ehren statt, und weil ich jetzt ein Erwachsener war, ein Universitätsabsolvent, der aus eigener Kraft etwas erreicht hatte, gab es hier keine Beschränkungen wie bei den Geburtstagsfeiern, die meine Mutter für mich veranstaltet hatte, bis ich schließlich auf die Universität gegangen war. Aber der Flachmann war auch nicht ganz unschuldig; sein Inhalt hatte erheblich zu meinem Hochgefühl beigetragen. War ich beschwipst? Ich weiß nicht. Doch ich sah die Dinge in einer Art blendender Klarheit, als wäre alles plötzlich hell erleuchtet, als hätte ich mein Leben bisher in einer zweidimensionalen Welt verbracht, in einem Schwarzweißfilm, und als wäre unvermittelt eine dritte Dimension hinzugekommen. Und alles in Technicolor. Iris zum Beispiel.
Sie saß mir gegenüber, in einem schulterfreien Organdykleid – es war blau, ein sanftes, kühles Hellblau, mit einem dazu passenden Hütchen, das auf dem weich fallenden Schatten ihrer Haare thronte –, und ich sah, daß sie die Augenbrauen gezupft und nachgezogen hatte, so daß sie zwei vollkommene Bogen bildeten, die den Weg zu ihren Augen wiesen. Bis dahin hatten wir nicht viel miteinander gesprochen; sie war von meiner Mutter und meiner Tante in Anspruch genommen, während Tommy und ich Erinnerungen an alte Zeiten austauschten, mit Gekicher, kleinen Schlägen auf den Oberarm und dem ganzen Sortiment spätpubertärer Verhaltensweisen, die uns noch immer in der Adoleszenz festhielten, auch wenn wir empört gewesen wären, wenn uns irgend jemand nicht wie erwachsene Männer behandelt hätte. Meine Mutter sagte: »Wir müssen eingreifen. Wir haben gar keine andere Wahl. Gott behüte, daß mein Sohn eingezogen wird – ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu sagen, daß er das einzige ist, was mir auf dieser Welt geblieben ist –, aber wir können es uns nicht leisten, uns vom Rest der Menschheit abzusondern, nein, das können wir uns nicht mehr leisten.«
»Das ist das, was wir glauben sollen«, erwiderte Iris und legte die Gabel hin. Sie hatte Fisch bestellt, und an den Gabelzinken schimmerten weiße Stücke davon vor dem Hintergrund der goldgelben Sauce auf ihrem Teller. »Warum sollten wir uns da hineinziehen lassen? Entschuldigung, ich weiß, daß Holland besetzt worden ist – aber so was passiert schließlich

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