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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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finde ich es schwierig, über sie zu sprechen. (Sie lebt, es geht ihr gut, und jetzt, während ich dies schreibe, ist sie noch keine sechzig und arbeitet als Grundschullehrerin in Michigan City.) Sie hatte – hat – einen Charakter, der durch die Umstände geformt wurde, und damit meine ich vor allem die Tatsache, daß sie sich selbst und ihren Sohn in der Zeit der großen Wirtschaftskrise ganz allein durchbringen mußte, weil sie mit dreißig Witwe geworden war und ihre Eltern beinahe tausend Meilen entfernt wohnten und weder imstande noch willens waren, ihr zu helfen. Sie war genügsam und akkurat, tüchtig und berechenbar wie eine Maschine, und nichts, was irgend jemand je getan hatte oder noch tun würde, konnte vor ihren Augen Gnade finden. Das klingt streng, und dabei will ich gar nicht streng sein: Sie hat mich genährt und gekleidet und mir Möglichkeiten geboten, und wenn ihr emotionales Ich nach dem Verschwinden meines Vaters ebenfalls verschwunden ist, so steht es mir nicht zu, ihr daraus einen Vorwurf zu machen. Ebensowenig wie es anderen zusteht. Sie nahm ihren Kummer in sich auf, sie saugte ihn auf wie ein Schwamm, und dann verhärtete sie sich, bis sie erstarrt war. Aber auch das wird ihr nicht gerecht. Sie ist meine Mutter, und ich liebe sie bedingungslos, wie jeder Sohn seine Mutter liebt. Das versteht sich von selbst. Vielleicht besser eine Beschreibung ihres Äußeren, vielleicht sollte ich mich darauf beschränken.
    Meine Mutter war überdurchschnittlich groß – eins siebzig –, und auf der Highschool hatte sie Basketball gespielt und Wandern, Schwimmen und Klatschgeschichten geliebt. Sie war holländischer Abstammung – ihr Mädchenname war van der Post –, und ihr rotbraunes naturgelocktes Haar färbte sich im Sommer an den Spitzen golden. Sie hatte eine spektakuläre Figur (das ist ein rückblickendes Urteil und beruht nicht so sehr auf eigener Beobachtung – man sieht die eigene Mutter nicht unter diesem Aspekt – als vielmehr auf der Tatsache, daß sie stolz darauf war und immer wieder erwähnte, Soundso habe ihr ein Kompliment über ihre Beine gemacht oder gesagt, im Pullover sehe sie wie ein Fotomodell aus und sie solle sich doch in Hollywood bewerben), aber wenn sie nach dem Tod meines Vaters irgendwelche Triebbefriedigungen hatte, so verbarg sie diese sorgfältig vor mir, und ich würde dieses Thema hier auch nicht anschneiden, wenn nicht die Sache zwischen Prok und ihr passiert wäre. Und aus Gründen der Vollständigkeit natürlich.
    Jedenfalls sah ich an jenem Freitagnachmittag aus dem Fenster, als Tommys Dodge blitzend am Bordstein hielt und Mutter und Tante Marjorie ausstiegen und sich umsahen, als wären sie nicht in Bloomington, Indiana, gelandet, sondern am Amazonas. Sie rückten ihre Hüte zurecht, bevor sie die Eingangstreppe der Pension hinaufgingen. Ich hätte sie an der Tür begrüßen können, doch ich zögerte und weiß nicht mal, warum. Es war ein Tag des Feierns und der Freude – endlich würde ich mal ein bißchen verwöhnt werden; es würde bestimmt ein gutes Abendessen geben, Austern, mit Blauschimmelkäse gefüllte Selleriestangen, ein medium gebratenes Steak auf makellosen Tellern und einer Leinendecke, so weiß, als wäre sie am Morgen erst gewebt worden –, aber ich stand einfach am Fenster und setzte mich erst in Bewegung, als ich ihre Stimme in der Eingangshalle hörte. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte – zweifellos begrüßte sie Mrs. Lorber und machte irgendeine tadelnde Bemerkung über den Zustand der Straßen, Tommys Fahrstil oder das Wetter: War es nicht furchtbar heiß? –, aber der Klang ihrer Stimme zog mich, und ich ging hinunter in ihre kalte Umarmung, der gehorsame Sohn, John, ihr Junge.
    Die drei Frauen standen in der Eingangshalle, leicht der Treppe zugewandt, als posierten sie für ein Gruppenbild, das An einem Tag stiller Freude in Erwartung seiner Schritte heißen konnte oder Wer macht alles gut?. »Mutter«, sagte ich und ging, immer eine Stufe nach der anderen, gemessenen Schrittes die Treppe hinunter, ohne unreifes Gehüpfe und Gespringe, »willkommen. Und Tante Marjorie. Wie schön, daß ihr da seid. Habt ihr euch schon mit Mrs. Lorber bekannt gemacht?«
    Meine Mutter umarmte mich steif und förmlich, doch ihre Augen verrieten, wie stolz sie auf mich war, wie sehr sie sich über mich freute. Sie wollte etwas in dieser Richtung sagen, jedenfalls dachte ich das, als Tommy die Eingangstreppe heraufgestürmt kam, die Tür aufriß

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