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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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nicht zum ersten Mal. Es gibt doch andauernd irgendwelche Kriege.«
Tommy war mitten in einer Geschichte über einen Streich, den er nach einem Footballmatch der gegnerischen Mannschaft gespielt hatte, und dachte irrtümlich, ich sei dabeigewesen, aber er war so eingetaucht in diese Erinnerung, daß ich ihn nicht korrigieren wollte. Nun hielt er inne und blickte seine Schwester an, als traute er seinen Ohren nicht. »Jetzt komm aber, Iris, willst du mich auf den Arm nehmen? Frankreich ist in ein, höchstens zwei Wochen am Ende, und dann kann Hitler England bombardieren, bis alles in Schutt und Asche liegt. Und glaubst du wirklich, er wird sich damit zufriedengeben? Glaubst du, er schickt Roosevelt eine Schachtel Pralinen und ein Briefchen: ›Nichts für ungut‹?«
»Genau«, sagte meine Mutter und reckte das Kinn. »Es wird vielleicht Jahre dauern, bis er hier ist, vielleicht auch ein Jahrzehnt, wer weiß? Aber die Welt ist kleiner, als Sie denken, Iris, und niemand kann sicher sein, solange es diesen Verrückten gibt. Haben Sie ihn letzte Woche in der Wochenschau gesehen? Dieser Stechschritt! Macht Sie dieser Stechschritt nicht auch krank?«
»Sie verstehen nicht. Das ist nicht unser Krieg«, sagte Iris. »Er hat nichts mit uns zu tun. Warum sollten unsere Jungs für irgendein morsches Kolonialreich sterben, für ... für ... John«, sagte sie und wandte sich an mich, »was meinst du?«
Ich meinte, daß die Feierstimmung zu wünschen übrig ließ. Ich meinte, daß Iris die hübscheste Frau war, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Ihre Augen funkelten vor Empörung, die Lippen waren gespitzt, der Weißfisch harrte seines Schicksals. Ich versuchte ein Grinsen. »Ich weiß nicht«, murmelte ich. »Ich persönlich? Ich will nicht sterben.«
Ich wollte die Stimmung ein bißchen heben, dem Gespräch eine andere Wendung geben und den stolzierenden Diktator von der festlichen Tafel vertreiben, doch niemand lachte. Sie sahen mich bloß an – sogar Tante Marjorie, die sanfteste Person, die ich kenne –, als hätte ich soeben gestanden, ich sei ein Betrüger, ein Kinderschänder oder Mörder. Krieg. Der Krieg hatte uns im Griff und ließ sich nicht abschütteln.
Iris kam mir zu Hilfe. Sie hatte die Gabel in den Mund geschoben und kaute auf einem Bissen Fisch und einem winzigen Stück grüne Bohne herum. »Das ist genau das, was ich meine«, sagte sie, noch immer kauend. »Ich will auch nicht sterben. Keiner will sterben.«
Meine Mutter winkte ab. »Sie sind noch zu jung. Sie verstehen das nicht. Das ist ein größeres Thema, es steht in einem größeren Zusammenhang –«
»Hey«, sagte Tommy, als wäre er soeben aus einem Nickerchen erwacht, »will noch einer ein Bier oder einen Cocktail?«
Wir begleiteten meine Mutter und meine Tante zu ihrem Hotel, gingen zu dritt noch etwas trinken und brachten Iris kurz vor der Sperrstunde ins Wohnheim. Im Aufenthaltsraum saßen etwa zehn Paare, die einander in die Augen sahen. Eine der Studentinnen hatte auf dem beigen, beinahe weißen Rock einen verräterischen Grasfleck, einen leuchtendgrünen Streifen, und ein Student, der mir entfernt bekannt vorkam, saß mit seiner Freundin auf dem Sofa und schmiegte sich so fest an sie, daß es aussah, als wären die beiden miteinander verklebt. Ihre Füße aber standen, wie es die Regeln verlangten, auf dem Boden. Die Rezeptionistin – die Blondine mit dem schlaffen Haar – war in ein Buch vertieft.
Tommys Tempo hatte sich im Lauf des Abends erheblich verringert, und als wir nun am Empfang vorbei- und quer durch den Aufenthaltsraum zur hinteren Wand gingen, wo wir einigermaßen ungestört waren, glich sein Gang mehr einem Taumeln. Iris hatte sich bei mir untergehackt. Wir lehnten uns an die Wand, und Tommy versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Zweimal ließ er die Zigarette fallen, einmal die Streichhölzer. »Hört mal«, sagte er, richtete sich auf und blickte sich um, als hätte er noch nie einen Raum voller knutschender Studentinnen und Studenten gesehen, »ich muß hier raus. Es ist wahnsinnig warm hier drinnen, findet ihr nicht? Ich schau mal, ob’s hier irgendwo ein Klo gibt.«
Wir sahen zu, wie er abwechselnd den einen und den anderen Fuß vom Teppich hob und sich dabei bewegte, als hätte sich der Boden in ein Trampolin verwandelt, und dann war er zur Tür hinaus, und mit der Nachtluft trieb ein Hauch von Blütenduft herein. »Der gute alte Tommy«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. »Er muß ein toller

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