Dr. Sex
Reisekosten aus eigener Tasche zu bezahlen. Die ersten spärlichen Fördermittel vom National Research Council und der Rockefeller Foundation waren eine gewisse Hilfe – auch ich als sein erster Vollzeit-Assistent wurde aus diesem Topf bezahlt. Die Vorträge liefen immer gleich ab: Prok betrat den Saal, in dem die Zuhörer bereits versammelt waren, und sprach mit seiner üblichen Unverblümtheit über die bis dahin tabuisierten Themen. Anschließend bat er Freiwillige – er bezeichnete sie als »Freunde der Forschung« –, vorzutreten und ihre Geschichte aufzeichnen zu lassen. Wenn wir nicht in seinem Büro saßen und an Tabellen, Kurven und Korrelationen arbeiteten, waren wir unterwegs und sammelten Daten, denn – wie er immer sagte – man konnte gar nicht genug Daten haben.
Und wie ging es mir dabei? Ich war natürlich aufgeregt und ließ mich von Proks Begeisterung anstecken – ich war (und bin auch heute noch) durch und durch von der Bedeutung des Projekts überzeugt –, doch der Zeitpunkt war, wie Sie sich vorstellen können, ein bißchen ungünstig. Iris und ich hatten uns gerade verlobt. Jeder von uns sehnte sich nach der Gesellschaft des anderen. Wir hatten begonnen, einander sexuell zu entdecken (auch wenn wir beide noch immer mit unseren Hemmungen zu kämpfen hatten und meine Erlebnisse mit ihr keineswegs so waren wie die mit Mac). Ich wollte mit ihr Zusammensein, Arm in Arm mit ihr durch Bloomington schlendern, in Gebrauchtwarenläden nach Geschirr, Teppichen und dergleichen stöbern und die Preise für Möbel vergleichen, die wir für unseren gemeinsamen Haushalt brauchen würden. Den hofften wir im Juni zu gründen, doch zuvor mußten wir eine Wohnung finden, die wir uns mit unseren bescheidenen Mitteln leisten konnten, und das kostete Zeit und Mühe. Statt dessen saß ich in zweitklassigen Hotels, blieb, obgleich total erschöpft, bis ein, zwei Uhr morgens auf und versuchte, so viele Protokolle wie möglich zu erstellen. Ich trank und rauchte zuviel. Ich hatte ein leises Pfeifen in den Ohren, mein Kopf schmerzte, meine Augen fühlten sich an wie geschmolzen, und nichts, nicht einmal Einzelheiten über die entlegensten Sexualpraktiken, konnte mich aus meiner Apathie reißen, weder Koprophilie noch Inzest oder Sex mit Tieren. Ich nickte lediglich, sah dem oder der Befragten fest in die Augen und machte meine Einträge auf dem Formular.
In dieser Zeit sammelten wir etwa zweihundert Geschichten. Wir strengten uns wirklich an, doch bislang litt unser Forschungsprojekt an einem Mangel: Die Mehrheit der von uns befragten Personen entstammte einer oberen sozialen Schicht, das heißt, es handelte sich um Studenten oder Selbständige. Wir hatten unser Spektrum, wie gesagt, erweitert und sammelten Geschichten unter den Angehörigen der homosexuellen Subkultur in Indianapolis und Chicago sowie unter den Insassen mindestens einer Strafanstalt und des Staatsgefängnisses, in dem Prok so viele wertvolle Kontakte geknüpft hatte – und aus einem Kontakt ergaben sich regelmäßig weitere, aus denen wiederum neue Kontakte entstanden, so daß wir nun entschlossen waren, möglichst viele Geschichten aus den unteren sozialen Schichten aufzuzeichnen. Vor allem fehlten uns Berichte von Schwarzen, und so unternahmen wir eine zweite Expedition nach Gary, Indiana, in das bereits erwähnte dortige Negerviertel.
An einem regnerischen Samstagmorgen Mitte April brachen wir auf. Damals mußten wir noch Rücksicht auf Proks Stundenplan nehmen: Das Eheseminar war zwar eingestellt worden, aber er hielt noch immer einige Biologiekurse ab, von denen einer samstags morgens um acht Uhr stattfand – für Studenten eine ungünstige Zeit, um sich über einen Seziertisch zu beugen oder zu bestimmen, ob eine Pflanze ein- oder zweikeimblättrig ist. Wir fuhren ohne Pause, so schnell, wie es die Straßen, der Nash und die Staatspolizei zuließen, und trafen kurz nach Einbruch der Dunkelheit ein. Wir aßen ein nicht erwähnenswertes Abendessen in einem schlechtbeleuchteten Schnellimbiß, und als wir anschließend Kaffee tranken und ein Stück Kuchen aßen, wurde aus dem Nieseln ein stetiger grauer Regen, der uns die Arbeit nicht leichter machen würde, denn wir würden draußen unterwegs sein, auf der Straße. Prok machte ein grimmiges Gesicht. Immer wieder sah er auf die Uhr, als könnte er damit dem Regen Einhalt gebieten und das Zusammentreffen mit unserem Kontaktmann beschleunigen. Er hatte guten Grund, besorgt zu sein. Unser
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