Dr. Sex
erster, im bitterkalten Februar unternommener Ausflug nach Gary war ein Reinfall gewesen. Stundenlang waren wir um einen Block nach dem anderen gefahren und hatten jedesmal, wenn auf den menschenleeren Straßen eine Gestalt erschienen war, hoffnungsvoll durch die Windschutzscheibe gespäht, doch Proks Kontaktmann war nicht aufgetaucht, und wir hatten nicht ein einziges Interview geführt. Jetzt verlor keiner von uns ein Wort darüber. Wir tranken den Kaffee, zogen unsere Regenmäntel an und fuhren sechs Blocks nach Süden, mitten ins Negerviertel.
Prok parkte in einer Seitenstraße. Um die Ecke war eine Kneipe namens »Shorty’s Paradise«. Es gab kleine Geschäfte (Friseur – Sandwiches nach Ihren Wünschen – Metzger), in den darüberliegenden Stockwerken waren Wohnungen, die über Außentreppen erreichbar waren, und hinter den Dächern ragten die Schornsteine von Fabriken auf wie die Türme einer Burgruine. Die Straße war mit aufgeweichten Zeitungen, leeren Flaschen und weggeworfenem Einwickelpapier übersät. Das Regenwasser lief an der Windschutzscheibe herunter und ließ den Bürgersteig schimmern. Nirgends ein Lebenszeichen. Wir stiegen aus. Als wir die Türen des Wagens zuschlugen, dröhnten sie wie Kanonendonner.
Die erste Überraschung kam, als wir um die Ecke bogen: Trotz des Regens drängten sich Menschen vor »Shorty’s Paradise« – ein ganzer Pulk quoll durch die offene Tür der Kneipe, und rechts und links unter der löchrigen Markise herrschte Gedrängel. Es waren Schwarze, ausschließlich Schwarze. Ich muß gestehen, ich hatte bis dahin nicht viel Kontakt mit Negern gehabt. Hin und wieder hatte ich in dem Geschäft, in dem ich früher in den Sommerferien arbeitete, ein paar freundliche Floskeln – »Schöner Tag heute, nicht?« – mit irgendeiner Köchin oder einem Dienstmädchen gewechselt, aber das war auch alles. Von drinnen ertönten Musik und Stimmengewirr, es roch nach Alkohol, Tabak und Marihuana. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich zögerte.
Im Gegensatz zu Prok. Prok war die zweite Überraschung. Obwohl er Bars, Zigaretten und ganz besonders den »Urwaldrhythmus« der populären Musik verabscheute, schob er sich durch die Menge und ging hinein, als hätte er an keinem Samstagabend seines Lebens etwas anderes getan. Er trug wie immer einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Fliege, darüber einen gelben Regenmantel, der auf dem Rücken stets Falten warf, als wäre er aus zwei vollkommen verschiedenen Stücken Wachstuch zusammengenäht worden. Auch ich hatte einen schwarzen Anzug und eine Krawatte an, doch mein Regenmantel – das Ding hatte meine Großmutter für mich ausgesucht – war grau mit schwarzen Sprenkeln und reichte mir bis zu den Knöcheln. Die Haare unter dem Schweißband meines Huts prickelten und schienen sich aufstellen zu wollen. Ich zog den Kopf ein und folgte ihm.
Der Raum wurde von einer langen Theke aus Mahagoniholz beherrscht, an der dichtgedrängt Leute saßen und sich unterhielten. Alle drehten sich um, als wir eintraten, und wandten sich dann wieder ab, als hätten sie uns nicht bemerkt. Die Jukebox spielte mit voller Lautstärke »Minnie the Moocher«, und jeder, der etwas zu sagen hatte, mußte sich anstrengen, um sich verständlich zu machen. Prok ging geradewegs zum Tresen, verschaffte sich dort ein wenig Platz und begann sofort ein Gespräch mit einem hünenhaften Mann in einem glänzenden blauen Zweireiher. Und nun kam die dritte, die eigenartigste Überraschung: Prok sprach Dialekt. Ich war verblüfft. Wie Sie vielleicht wissen, war Prok ein fanatischer Verfechter korrekter Ausdrucksweise und scheute sich nicht, grammatikalische Fehler seines Gesprächspartners zu berichtigen – mitunter war er dabei verletzend sarkastisch –, doch hier, in dieser Bar, schaltete er auf den Dialekt der Schwarzen um, als wäre er ein Bauchredner. Die Unterhaltung verlief ungefähr folgendermaßen:
»‘naamd, mein Freund«, sagte Prok und faßte den anderen in seine blauen Augen. »Ich such Rufus Morganfield. Kenn’ Sie den?«
Der Mann in dem glänzenden blauen Anzug ließ sich Zeit mit der Antwort. Er musterte Prok aus zusammengekniffenen Augen, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein nicht ganz leeres Glas. »Sind Sie ‘n Bulle?«
»Mh-mh.«
»Was dann? ‘n Bibelverkäufer?«
»Im Gegenteil. Ich bin Dr. Alfred C. Kinsey, Professor für Zoologie an der Indiana State University, und Rufus – Bruder Rufus – hat gesagt, er will sich
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