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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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war vielleicht auch ein bißchen nervös – ich jedenfalls war ein Nervenbündel, nicht nur, weil ich zu diesem Zeitpunkt erst so wenige weibliche Geschichten aufgezeichnet hatte, sondern auch wegen ihrer Rassenzugehörigkeit und der Umgebung: bedrückende, irgendwie gelbliche Wände, ein ordentlich gemachtes Einzelbett, das ebensogut eine Gefängnispritsche hätte sein können, hartes Licht von der nackten Glühbirne, die von der Zimmerdecke baumelte. Als sie etwa eine Viertelstunde nach Beginn des Interviews erkannte, worum es ging, entspannte sie sich, und ich glaube, daß ich bei ihrer Befragung gute, professionelle Arbeit leistete (auch wenn ich, um ehrlich zu sein, ebenso peinlich erregt war wie bei Mrs. Foshay).
Ihre Geschichte war wohl typisch für eine Frau in ihrer Lage: Sie hatte in der Pubertät sexuelle Beziehungen zum Vater und einem älteren Bruder gehabt und mit vierzehn geheiratet, anschließend war sie von Mississippi nach Norden gezogen, ihr Mann hatte sie verlassen, ein Zuhälter hatte sich um sie »gekümmert«, und dann waren die Freier gekommen und die Geschlechtskrankheiten. Ich weiß noch, daß ihre schlichte, von allen Nuancen freie Aufzählung der Tatsachen, der traurigen Tatsachen, mich rührte, wie mich noch nie etwas gerührt hatte. Ich wollte mich ganz unprofessionell von meinem Stuhl erheben und sie umarmen und ihr sagen, daß alles gut war, daß alles besser werden würde, obwohl ich wußte, daß das nicht stimmte. Ich wollte sie ganz unprofessionell ausziehen und mit ihr hier, auf diesem Bett, schlafen und sehen, wie sie sich unter mir wand. Aber ich gab weder dem einen noch dem anderen Impuls nach. Ich verschloß diese Gedanken in meinem Kopf und zeichnete ihre Geschichte auf – eine von Tausenden, die in unserem Archiv landeten.
Kaum war sie gegangen, da kam die nächste Frau. Sie war älter, dreißig oder fünfunddreißig, und hatte entlang der Kinnlinie auf der rechten Seite ihres Gesichts eine weiße, schlecht verheilte Narbe. Diese Frau hatte etwas Kämpferisches an sich: die Furche der zusammengekniffenen Lippen, die Unwetterwarnung auf ihrer Stirn, die »Das-wollen-wir-doch-mal-sehen«-Haltung ihrer Beine, als sie mit in die Hüften gestemmten Händen in der Tür stand. Bevor sie eintrat, wollte sie den Dollar haben, den wir jeder Befragten versprochen hatten. Ich wühlte in meinen Taschen, doch die waren leer. Prok hatte ein Bündel knisternder neuer Ein-Dollar-Scheine in seiner Brieftasche; er hatte das Geld am Vortag von seinem Bankkonto abgehoben, es aber in dem Durcheinander bezüglich geeigneter Orte für die Interviews versäumt, mir mehr als den einen Dollar zu geben, den nun die erste Prostituierte hatte. »Ich ... äh ... Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich glaube, ich muß mal eben ...«
»Na klar, es tut dir leid«, sagte sie und zog die Brauen zusammen. »Dann tut’s mir auch leid.« Sie stieß einen Fluch aus. »Und dafür hab ich meinen Arsch den ganzen Weg durch den Regen geschleppt!«
»Nein«, sagte ich, »nein, Sie verstehen nicht.«
»Du bist bloß ein kleiner Betrüger wie alle anderen«, sagte sie. »Du willst was umsonst, stimmt’s?«
Ich mußte all meine Überredungskünste aufwenden, die damals nur sehr unvollkommen entwickelt waren, um sie dazu zu bringen, auf dem Bett Platz zu nehmen und zu warten, während ich die Treppe hinunter- und zurück zum Nash lief, wo Prok sein Interview mit einer schwarzen Prostituierten führte. Er würde von dieser Unterbrechung nicht begeistert sein. Es war eine eiserne Regel, daß die Befragungen in einer privaten, ungestörten Atmosphäre stattfinden mußten, ohne jede Ablenkung, die den Rapport zwischen Interviewer und Befragtem zerstören könnte, ohne läutende Telefone, ohne im Hintergrund anwesende Dritte, ohne Notfälle irgendwelcher Art. Ich wußte das. Und ich wußte, wie unangenehm Proks Ungeduld – oder Zorn – sein konnte. Dennoch hatte ich keine andere Wahl. Ich legte die ganze Strecke rennend zurück, denn ich hatte Angst, die Frau könnte genug haben und einfach gehen, und als ich bei »Shorty’s Paradise« um die Ecke bog, erhob sich der dunkle Umriß des Nash aus der schwarzen horizontalen Fläche der Straße wie etwas, das ein abschmelzender Gletscher zurückgelassen hatte. Von drinnen schimmerte das Licht von Proks Taschenlampe, und durch die Windschutzscheibe waren die Silhouetten zweier Köpfe zu sehen. Schnaufend kam ich auf dem nassen Bürgersteig zum Stehen, atmete einmal tief durch und

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