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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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gesichtslosen Mitgliedern der Allgemeinheit in der Wochenschau vor dem Hauptfilm. Das Problem war eher die Ungewißheit: Man lieferte sich der Willkür einer so vielgliedrigen Institution wie der Armee der Vereinigten Staaten aus und konnte nur auf das Beste hoffen.
    Ich muß gute fünf Minuten dort im Vestibül gestanden haben, bevor Schritte auf der Eingangstreppe, dicht gefolgt vom Aufreißen und Zuschlagen der Haustür, mich aus meinen Gedanken rissen. Ezra Voorhees kehrte von einem Seminar zurück. Ezra studierte Betriebswirtschaftslehre, beziehungsweise deren Anwendung auf landwirtschaftliche Betriebe, und hatte den Ehrgeiz, die Produktion der Hühnerfarm seines Vaters, die er eines Tages übernehmen wollte, zu steigern. Er war neunzehn und ziemlich harmlos, aber auch laut und leicht erregbar. Er hatte seine Sexualgeschichte nicht preisgeben wollen (dabei hatte nicht viel gefehlt, und ich hätte ihn auf Knien darum gebeten), und er kümmerte sich nicht sonderlich darum, ob seine Kleider – oder er selbst – sauber waren. »John!« rief er und blickte mich so überrascht an, als wäre ich der letzte, den er in einem Haus, in dem wir ein Zimmer teilten, zu sehen erwartet hätte. Er riß mir den Brief aus der Hand und sagte: »Was ist das ? O Gott, o Gott. Das ist ja dein Einberufungsbescheid.«
    Ich streckte, zu benommen, um verärgert zu sein, steif die Hand aus. Er gab mir den Brief zurück.
»Willst du dich freiwillig verpflichten?«
»Tja, ich ... ich weiß nicht. Ich hab nie darüber nachgedacht.« Plötzlich sah ich mich in Uniform, aufrecht und hochgemut, die Haare ganz glatt und schimmernd, über den Ohren schneidig kurz, und unter dem linken Arm hielt ich den steifkrempigen Hut, während ich mit der Rechten salutierte. Meine Mutter würde stolz auf mich sein. Iris würde toben. Und Prok ... Prok würde der Schlag treffen.
»Du solltest dich verpflichten, glaub mir. Ich hab mit Dick Martone und ein paar anderen, zum Beispiel mit Dave Frears, gesprochen, und wir überlegen, ob wir zum Marine Corps gehen, ob wir uns dafür melden, meine ich. Bevor das Gedränge losgeht.« Ezra war groß, sechs bis acht Zentimeter größer als ich, und stämmig, aber mit einem eigenartig geformten und unproportional kleinen Kopf, an dem er sich jetzt langsam und nachdenklich kratzte. »Wenn du dich freiwillig meldest«, sagte er, »bist du mitten im Geschehen, in Übersee, in Frankreich oder Belgien ... Oder in Italien, in Italien, wo es richtig knallen wird.«
Ich ging zuerst zu Iris. Wir trafen uns in der Mensa zum Essen (das Rindfleisch war so lange gegart, daß es fast weiß war, und schwamm in einer karamelfarbenen Sauce, daneben lagen ein paar verzagte Kartoffeln und ein Häufchen Erbsen, die vor der Verabschiedung des New Deal geerntet und in Dosen verpackt worden waren), und erst als wir saßen, das Brot mit Butter bestrichen und das Fleisch gepfeffert hatten, schob ich ihr den Umschlag zu. Sie beugte sich darüber und erfaßte den Inhalt des Briefs, noch bevor sie ihn auf dem Tisch glattgestrichen hatte. Ihr Kinn zitterte, und als sie den Kopf hob, war in ihren Augen ein grauenvoller Ausdruck. »Ich fasse es nicht«, sagte sie. »Du kannst doch nicht... Reicht es ihnen denn nicht, daß sie Tommy haben?«
»Ich weiß nicht.«
»Du wirst doch nicht gehen?«
Ich zuckte die Schultern. »Was bleibt mir übrig?«
»Aber du bist verheiratet.«
Abermals ein Schulterzucken. »Verheiratet sind viele – und was glaubst du, wie viele in den vergangenen sechs Monaten geheiratet haben, nur um nicht eingezogen zu werden? Denen in Washington ist das egal. Und wie es aussieht ... Tja, Wilkie hat die Wahl verloren, nicht?«
Sie streckte die Arme über den Tisch und nahm meine Hände, verschränkte ihre Finger mit meinen und drückte zu, als wollte sie sie zerquetschen. »Ich werde dich nicht gehen lassen«, sagte sie. »Nein. Das ist nicht unser Krieg. Damit haben wir nichts zu tun.«
Aber natürlich stimmte das nicht, wie das ganze Land und selbst die eingefleischtesten Isolationisten erkannten, als die Japaner kaum zwei Monate später Pearl Harbor angriffen. Aber an jenem Abend, als ein kalter Wind dürre Blätter über den Campus wirbelte und Iris nach meinen Händen griff, als ringsumher Studentinnen und Studenten auf ihrem zähen, zu lange gegarten Fleisch herumkauten, Lehrbücher oder die Witzseite einer Zeitung lasen oder einfach übermütig lachten, schien es, als würde die Kraft ihrer Worte ausreichen: »Ich werde dich

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