Dr. Sex
nicht gehen lassen. Nein.«
Am nächsten Morgen zeigte ich Prok den Brief. Wie üblich war er früher als ich im Büro und saß, in die Arbeit vertieft, an seinem Schreibtisch. Ich wollte ihn nicht stören, doch als ich eintrat, begrüßte er mich mit einem Lächeln, und ich fand, ich könnte ihm die schlechte Nachricht ebensogut gleich mitteilen. »Guten Morgen, Prok«, sagte ich. Er senkte den Blick wieder auf das Blatt, das vor ihm lag, doch ich beharrte, wenn auch etwas unbeholfen. »Prok«, wiederholte ich, er hob wieder den Kopf, und sein Lächeln verschwand, »ich muß dir was ... Also, ich wollte dir sagen, daß ... daß ... na ja ... hier.« Ich reichte ihm den Einberufungsbescheid.
Er überflog ihn, erhob sich, faltete den Brief sorgfältig zusammen und gab ihn mir zurück. »Das habe ich schon seit einiger Zeit befürchtet«, sagte er. Für einen winzigen Augenblick wirkte er wie besiegt: Der Schatten der Resignation huschte über sein Gesicht, und seine Wangen waren schlaff und schwer, doch dann straffte er die Schultern und stieß scharf die Luft aus, so daß es klang, als würde ein Wasserkessel kochen. »Zum Teufel«, sagte er und kam damit dem Fluchen so nahe wie nie zuvor und später nie mehr, »wir werden das anfechten, und wenn wir bis zum Verteidigungsminister gehen müssen.« Er hielt inne und sah mich fragend an. »Wie heißt der überhaupt?«
Ich sagte ihm, ich wisse es nicht.
»Schon gut. Ist ja auch unwichtig. Wichtig ist nur unsere Forschungsarbeit, und ich frage mich, ob irgendeiner von diesen Menschen« – er machte eine ausladende Armbewegung, als wären sowohl all die Politiker mitsamt ihren Land- und Seestreitkräften als auch Hitler und seine Wehrmacht nichts als unwissende Studenten, die bei einer Biologieklausur eine zentrale Frage falsch beantwortet hatten –, »ob irgendeiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung hat, was es heißt, einen Interviewer auszubilden. Nein«, knurrte er als Antwort auf seine eigene Frage. »Das bezweifle ich sehr. Aber du weißt es, John, stimmt’s?«
Ich nickte. Wir hatten Hunderte Stunden auf meine Ausbildung verwendet. Prok hatte mich mit Prüfungsfragen bombardiert, war ungeduldig aufgesprungen, hatte mir den Protokollbogen aus der Hand gerissen und ihn korrigiert, er hatte mir stundenlang über die Schulter gesehen und mich Probeinterviews machen lassen – seine eigene Geschichte muß ich an die fünfzigmal aufgezeichnet haben –, und als ich meine ersten echten Befragungen durchführte, saß er hinter mir wie ein geschnitzter Indianer. Er war, wie gesagt, ein Perfektionist, und für alles gab es für ihn nur eine einzige Methode: die Kinsey-Methode. Ich kann nicht sagen, ob man diesen Charakterzug als Makel bezeichnen soll oder nicht. Seine Methode war erfolgreich, keine Frage, und das auf einem Gebiet, auf dem so viele andere – KrafftEbing, Hamilton, Moll, Freud, Havelock Ellis – zu kurz gegriffen hatten. Doch das kam nicht von ungefähr: Die Ausbildung war eine sehr ernste Angelegenheit. Und auf jeden Fall mußte man über eine ganz bestimmte Persönlichkeit verfügen – über die eines Rekruten wahrscheinlich, vielleicht auch die eines Jüngers –, um sich ihr zu unterziehen.
Prok war hinter seinem Tisch hervorgekommen und ging, die Hände auf dem Rücken gefaltet, in dem engen Büro auf und ab. »Nein«, sagte er schließlich und baute sich vor mir auf, so daß unsere Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. »Nein, ich werde es einfach nicht zulassen.«
Und so begann Prok eine energische Kampagne mit dem Ziel, mich für die gesamte Kriegsdauer an seiner Seite zu behalten. Interessanterweise erkundigte er sich nie nach meiner eigenen Haltung in dieser Sache, sondern nahm einfach an, daß ich hundertprozentig mit ihm übereinstimmte, daß Sexforschung – sein Projekt und die Mehrung menschlichen Wissens – für das Wohlergehen des Landes weit bedeutsamer war als der Sieg in einem Krieg in Europa oder im Pazifik. Er setzte mich nie unter Druck. Er wußte auch nicht, daß ich stundenlang in meinem Zimmer auf der Bettkante hockte und mit Ezra, Dick Martone und ein paar anderen das Für und Wider einer freiwilligen Verpflichtung erörterte: Sollte ich meinen Teil tun und für die Sache der Freiheit alles aufgeben? Letzten Endes fügte ich mich. Das heißt, ich tat nichts und ließ den Dingen ihren Lauf.
Prok schrieb ein Gesuch und erbat sich Empfehlungsschreiben zu meinen Gunsten von President Wells, Robert M.
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