Draakk: Etwas ist erwacht. (Horrorthriller) (German Edition)
auf den Tag genau ein Jahr her, das mit Anna, seiner Ex-Frau.
Ex-Frau. Was für ein selten dämliches Wort. Für ihn war Anna immer nur Anna gewesen – niemals seine »Ex-Frau«, nicht als er die Scheidungspapiere unterzeichnet hatte und schon gar nicht jetzt, da sie tot unter der Erde lag.
Singer schraubte den Verschluss der nächsten kleinen Flasche mit einem leisen Knacken auf und ließ ihn achtlos zwischen seinen Fingern zu Boden gleiten. Er starrte eine Weile auf das winzige Glasbehältnis in seiner Hand – kaum mehr als ein Kinderspielzeug – und setzte es dann an seine Lippen. Er trank es in einem Zug leer.
Am Anfang war sie für ihn einfach nur seine geliebte Anna gewesen, von dem reizenden Grübchen, das sich auf ihrer linken Wange bildete, wenn sie lächelte, bis zum bunten Sommerkleid, in dem sie lachend für ihn getanzt hatte in jenem Kornfeld. Als es für sie noch einen Grund gegeben hatte, zu lachen und zu tanzen.
Anna, der Wirbelwind in seinem sonst so geordneten Akademikerleben. Anna, die auch noch für ihn gelächelt hatte, als die Sonne in ihrem Herzen längst untergegangen war. Sie war sein erfrischender Anteil »echtes Leben« gewesen, den er sich gegönnt hatte, wie gewitztere Leute sich wohl einen Ferrari gönnten oder eine Jacht. Diese Dinge waren immerhin ersetzbar. Sie konnten kaputtgehen, oder geklaut werden, natürlich – doch am Ende zahlte immer die Versicherung. Sterben konnten diese Dinge nicht.
Oder wahnsinnig werden.
Was er tatsächlich am schmerzlichsten vermisste, waren die sanften Wölbungen der Decke neben ihm, wenn er morgens erwachte. Dieses winzige Stück Gewissheit, dass dieser Tag nur gut werden konnte. Einfach gut werden musste , weil sie da war. Weil sie beide da waren, wie eine richtige, kleine Familie.
Seine Hand krampfte sich fester um das kühle Glas der leeren Flasche. Hier, in der übertrieben teuren Superior Suite des Park Hyatt verstand er plötzlich die wahre Bedeutung des Wortes Reichtum. Er begann zu begreifen, dass Reichtum manchmal nur ein klappriges apfelgrünes Holzbett in einem kleinen windschiefen Häuschen inmitten von Kornfeldern sein kann.
Und er verstand, dass dieser Reichtum flüchtig ist.
Jenseits der Spiegel
S inger redete sich auch heute noch mit einigem Erfolg ein, dass er es gar nicht hatte bemerken können , dass die Symptome zu schwach, zu undeutlich und zu selten gewesen waren. Das stimmte sogar. Zumindest hatte es am Anfang gestimmt. Wie beispielsweise an jenem Sonntag, als er, wachgekitzelt von der Sommersonne, seine Hand nach Anna ausgestreckt hatte.
Ihre achtjährige Tochter Antonia, ein Frühaufsteher wie alle Kinder, würde wahrscheinlich bereits in ihrem Zimmer mit ihrer Holzpuppe spielen, die sie mindestens einmal pro Woche umtaufte. Diese Woche hatte ihr Auguste gefallen, wenn sich Singer recht erinnerte. Oder sie würde vielleicht lesen. Seit sie die Abenteuer des Lügenbaron Münchhausen für sich entdeckt hatte, kam sie morgens seltener zum Kuscheln ins Bett ihrer Eltern.
Zeit und Gelegenheit also für die jungen Eltern, sich ein wenig miteinander zu beschäftigen. Singer würde unter der leichten Sommerdecke auf Forschungsreise gehen und beginnen, Annas Bauch sanft zu küssen, dann langsam hinabgleiten, während seine Hände ihre …
Doch seine Hand tastete ins Leere. Als er die Augen öffnete, sah er, dass er heute Morgen tatsächlich allein in dem grün gestrichenen Holzbett lag. Neben ihm befand sich nur das zerwühlte Laken – Anna hatte sogar ihre Überdecke mitgenommen. Singer warf einen schläfrigen Blick auf seine Armbanduhr, 6:45 Uhr. Heller Morgen, ja – aber noch mindestens eine Stunde zu zeitig, um das Frühstück zuzubereiten, was sie
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