Drachen der Finsternis
gewöhnen.
Sie zogen am nächsten Morgen weiter. Die Felder, an deren Rändern sie gesungen hatten, blieben grün hinter ihnen zurück –grün mit einem leichten Rotstich. Der Reis jedoch machte die Menschen wieder satt. Vier Männer gingen mit ihnen.
»Wir sind auf dem Weg zum Basislager«, erklärte Niya, »genau wie zahlreiche andere kleine Gruppen. Und wenn wir dort ankommen, wollen wir möglichst viele sein. Und wir wollen eine Menge Maultiere mit uns bringen und Pferde. Der große T wartet auf uns. Er wartet auf die, die neu zu seinen Reihen stoßen, um sie auszubilden. Er schickt niemanden wehrlos in den Kampf. Auch auf euch wartet er, ohne es zu wissen. Im Basislager werdet ihr alles lernen, was ihr wissen müsst.«
Jumar sah, wie sie Christopher zuzwinkerte, und es gab ihm einen Stich.
»Selbst du wirst dort das Schießen lernen, verlass dich drauf, sagte sie und stieß ihn freundlich in die Seite.
Und der nepalesische Thronfolger, von dessen wahrer Identität nicht einmal Niya wusste, seufzte lautlos, tief in seinem Herzen. Was nützte es ihm, dass er auf ein paar rostige Konservenbüchsen zielen konnte? Er war und blieb unsichtbar, und bisweilen hatte er das Gefühl, dass Niya ihn vergaß. Christopher aber war sichtbar. Er war es, mit dem sie sprach.
Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, er wäre wie alle anderen.
Warum war er unsichtbar? Ja, warum? In seinem Kopf hallten Niyas Worte nach: Du kannst immer noch versuchen, es herauszufinden.
Vorerst aber kam eine ganz andere Gelegenheit für ihn, Niya zu beweisen, wie unentbehrlich er war.
Es war ein kühler Abend, und sie waren lange, lange geritten, ohne eine menschliche Behausung zu sehen. Als sie in der Ferne die Umrisse eines Dorfes ausmachten, atmeten sie alle auf. Sie waren hungrig, durstig und müde; die Tiere brauchten eine Rast, und die Nacht würde kalt sein. Niya, Jumar, Christopher und zwei andere Männer ritten voraus, die Gassen entlang, und klopften an die Tür des größten Hauses im Dorf – eines stattlichen, alten Hauses mit drei Stockwerken und umlaufenden Baikonen auf jeder Ebene, deren Geländer hölzerne Schnitzereien von Pfauen, Tigern, Rehen und Pflanzen zierten.
Eine winzige Frau öffnete ihnen, kaum größer als ein Kind.
Jumar sah das Erschrecken in ihren Augen, als sie die Männer mit den Gewehren über der Schulter anstarrte.
»Wir suchen ein Quartier für die Nacht«, sagte Niya. »Dies ist das größte und schönste Haus im Dorf. Sicher habt ihr Platz für eine Handvoll müder Kämpfer?«
»Ich glaube nicht, dass der Herr unangemeldete Gäste empfängt«, antwortete die Frau. Ihre Worte zitterten in der Abendluft. »Ich werde fragen«, sagte sie und wollte die Tür schließen. Doch einer der Männer setzte seinen Fuß dazwischen.
»Es ist uns lieber, sie bleibt offen«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.
Wenig später erschien die kleine Frau wieder, doch jetzt wurde sie von mehreren Männern begleitet.
»Der Herr dieses Hauses öffnet seine Türen nicht für solche, die dem König untreu sind«, sagte der größte der Männer. »Das ist alles, was ich ausrichten kann.«
»Würde der Herr des Hauses nicht lieber selbst mit uns sprechen?«, fragte Niya höflich.
»Er wünscht, nichts mit euch zu schaffen zu haben«, erwiderte der Mann.
»Sind das dort seine Ställe, die an das Haus grenzen?«, fragte sie ruhig.
»Es sind nicht nur seine Ställe. Die Vorratshäuser, der Brunnen – jeder einzelne Quadratmeter dieses Dorfes gehört ihm. Selbst der Weg, auf dem ihr steht. Ihr seht, es ist ein schöner Weg. Nur einer wie unser Herr kann sich leisten, ihn zu pflastern. Die Felder sind sein, die Weiden, das Vieh – was immer ihr wollt. Er ist ein großer Herr. Die kleinen Bauern haben alle Schulden bei ihm, aber er lässt sie weiter auf seinem Land arbeiten.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Niya. Jumar spürte etwas Kaltes von ihr ausgehen wie eine Farbe, eine Welle von Ärger, den sie mit äußerster Disziplin zurückhielt.
»Und könnte euer Herr wohl ein paar Säcke seiner üppigen Vorräte entbehren?«, erkundigte sich Niya. Jumar wusste, wie die Antwort lauten würde, und er wusste, dass Niya es wusste. Er ballte die Hände in den Taschen von Christophers abgewetzter Jeans zu Fäusten.
In diesem Moment quietschte im ersten Stockwerk eine Tür, und ein Mann mittleren Alters trat auf den überdachten Balkon hinaus, der die ganze Länge des Hauses einnahm. Er trug ein lächelndes
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