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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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von Menschen, die ihm zunickten. Er sah die Angst in ihren Augen. Dann waren es wieder Kartans Männer, deren Uniformknöpfe in der Sonne glänzten, und sie lachten ihn aus. Mal schoben sich Arnes Züge vor die Büchsen und mal die von Niya.
    Schließlich schüttelte er den Kopf und stellte das Gewehr hin.
    Seine Hände zitterten.
    »Ich – ich kann das nicht«, sagte er. »Ich bin nicht dazu gemacht.«
    »Versuch es noch einmal«, sagte Niya sanft.
    Christopher setzte die Waffe an und schoss, ohne die verräterischen Büchsen anzusehen. Er wollte nur weg hier, fort von der Waffe, weg von den knallenden Schüssen, fort.
    Als er gerade aufgeben wollte, da prallte einer der Korken mitten an einer Büchse ab, und Niya klatschte. Gleich darauf traf er noch einmal, und noch einmal –
    Aber es stimmte nicht. Er traf nicht. Und dann sah sie es auch. Christophers Korken verfehlten die Dosen nach wie vor. Die Korken, die sie trafen, kamen von etwas weiter seitwärts. Christopher zählte die Gewehre, die am Felsen lehnten. Eines fehlte.
    Er spürte Niyas Blick.
    »Es ist noch jemand hier«, sagte sie leise.
    »Ja«, sagte Christopher.
    Sie starrte jetzt ihren Arm an, als säße ein unbekanntes Insekt darauf. Aber Christopher wusste, dass es kein Insekt war. Es war die Berührung einer unsichtbaren Hand.
    »Zeit für die Wahrheit«, hörte er Jumars Stimme sagen.
    Der nepalesische Thronfolger hatte alle Romane im Palast gelesen und die Dichtung des Abend- und des Morgenlandes über sich ergehen lassen – er hatte alle Filme gesehen, derer er habhaft werden konnte, und alle Musikstücke gehört, die in den Rillen der Schallplatten und den glänzenden Flächen der CDs seines Lehrers verborgen lagen – all jene Romane und Gedichte und Filme und Musikstücke, deren Thema ewig und unwiderruflich nur das eine war: die Liebe.
    Er hatte darüber die Stirn gerunzelt und sie nicht begriffen.
    Denn er hatte noch nie geliebt.
    An jenem Tag aber, an dem er im Staub eines farblosen Dorfes die Worte eines Mädchens vernahm, das in keinen der Romane, in keines der Gedichte, keinen der Filme und keines der Musikstücke passen wollte, da packte es ihn wie eine unbekannte Macht, und die Liebe schloss ihn in ihren Würgegriff.
    Er wusste nicht, was sie war, und nicht, wohin sie ihn führen würde, aber er wusste, dass er keine Chance hatte gegen diese Macht. Wenn er Niya ansah, war es, als fieberte er, seine Wangen glühten, und sein Kopf schien zu schweben.
    Als er seine Hand auf ihren Arm legte, spürte er die feinen Härchen auf ihrer Haut und musste schlucken, ehe er etwas sagen konnte.
    »Zeit für die Wahrheit«, sagte er.
    »Die Wahrheit?«, fragte Niya. Sie blickte an ihm vorüber, suchend, ins Nichts.
    Da nahm er ihre Hand, wie er Christophers Hand genommen hatte, als er ihm zuerst begegnete, und führte sie zu seinem Gesicht, damit sie begriff. Aber als ihre Finger voller Erstaunen über seine Stirn und seine Augenbrauen glitten, bereute er es, denn er glaubte, bersten zu müssen vor Verlangen nach ihr.
    All dies war neu für ihn und beunruhigend. Er war erst vierzehn.
    »Du hast nicht einem das Leben gerettet, sondern zweien«, flüsterte er. Wenn sie nur nicht merkte, wie seine Stimme zitterte!
    »Ich bin Jumar, und ich bin so geboren: unsichtbar.«
    »Warum?«, fragte sie.
    »Keiner weiß das.«
    »Hast du nie versucht, es herauszufinden?«
    »Nein«, antwortete Jumar verblüfft.
    »Nun, du kannst es ja noch tun«, sagte sie und lächelte. Dann zog sie ihre Hand zurück.
    »In jedem Fall kannst du schießen.«
    »Ich habe dir zugesehen, dir und Christopher.«
    Sie schien einen Moment zu überlegen. »Ein Unsichtbarer«, sagte sie schließlich, »ist Gold wert für uns. Der große T wäre begeistert. Ein Unsichtbarer kann vieles tun, was ein Sichtbarer nicht kann. Wirst du bei uns bleiben?«
    »Ich werde euch helfen und tun, was immer ihr von mir verlangt«, sagte Jumar, und er hörte, wie pathetisch seine Worte klangen, aber wenn man vierzehn ist und zum ersten Mal liebt, kann man sich einer gewissen Pathetik nicht entziehen.
    »Du bist einverstanden, wenn ich es den anderen sage?«
    »Dass ich unsichtbar bin?«
    Sie warf ihren Kopf zurück und lachte, und Christopher stimmte mit ein.
    »Das«, antwortete sie, »werden sie wohl selbst merken, wenn du mit ihnen sprichst.«
    Und Jumar wusste, dass er rot wurde bis über den Haaransatz. Gut, dass niemand es sah.
    Die Maoisten brauchten eine Weile, um sich an Jumars Anwesenheit zu

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