Drachen-Mädchen
ich kann es schaffen!« sagte Grundy eifrig. Er hatte recht: Sein geringes Körpergewicht und sein fester Griff verschafften ihm erhebliche Vorteile. Zu schade; Irene hätte es vorgezogen, wenn sie auf seine frechen Bemerkungen hätte verzichten können, zumal diese den Simurgh möglicherweise in Rage bringen würden.
Als der Efeubewuchs dicht genug geworden war, machten sich Irene, Xavier und Grundy an den Aufstieg. Sie fanden genügend Halt in dem sich verzweigenden Bewuchs. Wie es einer Muse geziemte, war dies eine sehr luxuriöse und kräftige Efeusorte.
Der Aufstieg war kein Zuckerschlecken, aber Irene war mit Pflanzen vertraut, vor allem mit dieser Art, und sie erinnerte sich ständig selbst daran, daß sie es für ihre Tochter tat. Natürlich war Ivy nicht mehr in der Gewalt der Hexe, doch je früher sie diese Mission beendete, um so eher konnte sie sich auf den Weg machen, um Ivy zu retten. Die Musen hatten gesagt, daß die Mission nicht vergebens sei, und anscheinend wußten sie, wovon sie sprachen.
Grundy hatte keinerlei Schwierigkeiten, weil er ohnehin ständig an irgendwelchen Dingen emporzuklettern pflegte. Und Xavier war von größter Kraft und Ausdauer, er schien die geringe Anstrengung der Kletterpartie geradezu zu genießen. So kamen sie gut voran.
Endlich flachte der Berghang in Gipfelnähe etwas ab, und sie konnten die Kletterpflanze loslassen, wenngleich Irene dafür Sorge trug, daß sie sie jederzeit ergreifen konnte, falls sie abstürzen sollte. Sie wandte den Blick zurück und blickte in die Tiefe. Ein Schwindelgefühl überkam sie. Blicke nie zurück, dachte sie, wenn du auf dem Gipfel bist.
Dann drehte sie sich wieder um – und erblickte den Baum.
Der Baum der Samen war einfach riesig. Seine Wurzeln hatten sich in den kuppelförmigen Berggipfel gegraben, sein Stamm ragte massiv empor, und seine Äste schienen ganz Xanth bedecken zu wollen. Das Laubwerk war außerordentlich vielseitig, weil dies der Baum aller Pflanzenarten war und er Samen sämtlicher existierender Gattungen hervorbrachte. Für Irene war es der wunderbarste Baum, den es nur geben konnte.
Sie blickte nach Norden, auf den zweiten Gipfel des Parnaß, und machte dort den Baum der Unsterblichkeit aus. Aus dieser Entfernung wirkte er ziemlich klein, aber sie war davon überzeugt, daß er mindestens ebenso groß war wie der Baum auf ihrem Gipfel.
Sie wandte sich wieder dem Baum der Samen zu. Dort, auf einem hochgelegenen großen Ast hockte der Simurgh, ein Vogel von der Größe des Rokh, dessen Federn wie Schleier aus Licht und Schatten waren und dessen gekrönter Kopf wie Feuer aussah. Er bewegte sich und breitete halb seine gewaltigen Schwingen aus, und sie wirkten wie Nebelschwaden über einem Berg.
»Was für eine Kreatur!« hauchte Xavier bewundernd.
Da hatte er durchaus recht. Irene war darauf vorbereitet gewesen, daß der Simurgh einen beeindruckenden Anblick bieten würde, doch das hier überstieg alle Erwartungen: diese Größe, diese Schönheit! Es war überwältigend. Wenn der Baum der Samen ein Monarch unter den Bäumen war, so war der Simurgh ein Monarch unter den Vögeln.
»Ich werde versuchen, mit ihm zu sprechen«, sagte Grundy nervös. »Ist schließlich meine Aufgabe.«
BEMÜHE DICH NICHT, GOLEM.
Irene blickte sich erschrocken um und bemerkte, daß Xavier das gleiche tat, während es Grundy buchstäblich umhaute. »Das ist der Vogel!« rief er und setzte sich wieder auf. »Der Simurgh spricht zu uns!«
WAS IST EUER BEGEHR? fragte der Simurgh, und seine Stimme erklang in ihrem Geist.
Weder Grundy nach Xavier wußten irgend etwas zu sagen. Irene war es, die mit einem Auftrag unterwegs war, und da sie die einzige anwesende Frau war, war sie auch die natürliche Anführerin.
Sie schluckte schwer und begann zu sprechen. »Als erstes brauchen wir eine Fe…«
EINE WAS? fragte der ungeheure Vogel.
»Eine…« fing Irene wieder an.
WER HAT EUCH DAS IN DEN KOPF GESETZT, STERBLICHE?
Die Art, wie er das Wort ›Sterbliche‹ aussprach, war alles andere als beruhigend; das Leben war nicht unbedingt sehr lang… Eingeschüchtert erwiderte Irene: »Die…«
DAS HÄTTE ICH MIR GLEICH DENKEN KÖNNEN! DIESE HEXE XANTHIPPE IST SCHON IMMER EINE DIEBIN GEWESEN, DIE ES STETS NACH ALLEM VERLANGTE, WAS IHR NICHT ZUSTAND.
»He, Federhirn, beleidige bloß nicht meine Mutter!« protestierte Xavier in der sturen Art seines Geschlechts.
Der Simurgh richtete ein gigantisches, strahlendes Auge auf ihn. Das schüchterte
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