Drachen-Mädchen
ihr den Samen. Seine Konturen waren unscharf, und er ließ sich nur schwer bestimmen.
»Zwietracht«, fuhr Grundy in zänkischem Ton fort und gab den Samen an sie weiter. Er besaß scharfe Dornen, die es schwer machten, ihn anzufassen, ohne sich dabei zu verletzen.
»Und Krieg«, beendete Irene in drohendem Ton die Reihe und betrachtete den Samen. Er glich einer pilzförmigen Wolke.
Sie verstaute die Samen sorgfältig in einer Tasche und konnte nur hoffen, daß der Simurgh im Recht war, sie ihr auszuhändigen. Denn sie wußte, wie schlimm sie mißbraucht werden konnten.
UND DIESE SIND FÜR DICH, GUTE FRAU, projizierte der Simurgh. SOVIEL DU FANGEN KANNST. Der Vogel breitete die Schwingen aus, erzeugte mit seinem Flattern ein Geräusch wie ein Donnergrollen, erhob sich kurz und ließ sich wie ein Stein auf den Ast zurückfallen. Der Baum der Samen erbebte so heftig, daß sein gesamtes Blattwerk an Konturenschärfe verlor.
In einer sich ausdehnenden Kugel prasselten Samen, von ihren Früchten bereits gelöst, durch die Luft. Es war eine dichte Wolke, die das Licht der Sonne vorübergehend auslöschte, Irene schrie auf, halb vor Freude, halb vor Entsetzen: Freude, weil ihr dies Gelegenheit gab, wundervolle neue Samen zu sammeln, Entsetzen, weil sie erkennen mußte, daß es ihr nur gelingen würde, sich allenfalls einen winzigen Bruchteil der riesigen Samenmenge anzueignen.
Grundy öffnete den Mund, um etwas zu sagen – und verschluckte unversehens einen Samen. Das ließ ihn verstummen.
Irene hob ihr Kleid hoch, um so viel aufzufangen, wie sie nur konnte. Samen prasselten auf ihren Leib und glitten in die Mulde ihres Kleides hinab – eine erbärmlich winzige Auswahl, und doch von unschätzbarem Wert.
Einen Augenblick später hörte der Hagelschauer auch schon wieder auf. Benommen blickte Irene um sich. Auf dem Gipfel war keiner der Samen mehr zu sehen, und sie wußte, daß sie wohl für immer verloren waren. Doch ihr Kleid war prall gefüllt mit Samen aller Art und Gestalt: Viele sahen aus wie winzige Staubkörner, andere glichen Schneeflocken; wiederum andere erinnerten an Sand, manche an Baumwollblüten und winzige Kapseln. Sie waren von jeder nur erdenklichen Farbe und Größe und Beschaffenheit. Manche erkannte sie, etwa die Delftbeere (winzige Teetassen), die Fliegerwurzel (mit winzigen Flügeln und Propellern), Gummi (kleine Blasen hervorbringend), Pfauenschwertlilien (mit hübschen, gespreizten Schweifen) und Dumpffarn (mit unglücklichem Ausdruck); doch viele andere waren ihr unvertraut. Was war denn das hier für eine Pflanze, deren Samen aussahen wie zwei gekreuzte Knochen, oder die hier, die wie eine Haarnadel aussah? Sie würde sie zu Hause auf Schloß Roogna in den alten Bestimmungsbüchern nachschlagen müssen, bevor sie es wagen durfte, sie wachsen zu lassen. Welch ein fabelhafter Schatz!
»Ihr solltet Euch sehen können!« rief Grundy. »Samen in Eurem grünen Haar, Samen in Euren Pantoffeln, Samen zwischen Euren Tit…« Er bemerkte ihren giftigen Blick und verbesserte sich hastig: »… in Eurem Ausschnitt.«
Nun sah sich Irene vor ein neues Problem gestellt. »Wie soll ich die denn alle transportieren?« fragte sie. »Ich kann doch mein Kleid nicht loslassen!« Doch wenn sie das täte, würde alles herunterrutschen, und sie ahnte, daß sie alles verlieren würde, was hier den Boden berührte. Der Simurgh hatte ihr zwar ein Geschenk gewährt, aber er hatte es ihr dabei nicht leicht gemacht: Sie durfte nur jene Samen behalten, die sie einfangen – und halten – konnte.
»Ich helfe Euch«, sagte Xavier galant. Er begann, Samen aus ihrem Haar zu picken und in ihr ausgebreitetes Kleid zu tun. Als er tiefer griff, mußte sie ihn abwehren.
»Danke, Xav, die anderen werde ich schon selbst heraussuchen, sobald es geht.« Sie hatte auch so schon genug Probleme, als daß sie auch noch dulden konnte, daß er zwischen ihren Brüsten nach Samen herumfischte, während sie mit hochgehobenem Kleid dastand und ihre Hände nicht freibekam. Zwar hatte er eingewilligt, sich eine andere Frau zu suchen, aber es hatte keinen Sinn, ihn auch noch in Versuchung zu führen.
Nun hatte sie die meisten Samen beisammen – aber ihre Hände waren noch immer blockiert. Was sollte sie tun? Der Gedanke, auch nur einen der Samen zu verlieren, war ihr unerträglich, denn vielleicht wäre dies der wertvollste von allen gewesen. Neben ihrem Mann und ihrer Tochter waren Samen das wichtigste, was sie im Leben kannte. Sie
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