Drachen-Mädchen
die Kletterpflanze und streckte die Rechte empor. »Gebt ihn an!« rief er.
Bevor sie in die Tiefe stieg, blickte Irene noch einmal den Baum der Samen und den monströsen weisen Vogel an. »Lebt wohl, Simurgh, und vielen Dank!« rief sie.
LEBT WOHL, GUTE FRAU, erwiderte der Vogel. UND VERGESST NICHT, WELCHE SAMEN IHR BEI EUCH TRAGT.
Wohl kaum! Diese Samen stellten einen Reichtum dar, der ihre Vorstellungskraft beinahe überstieg!
Irene machte sich an den Abstieg, wissend, daß sie wahrscheinlich nie wieder einem Wesen wie dem Simurgh begegnen würde.
10
Zyklopenauge
Am Morgen spähten Ivy, Hugo und Stanley über den Rand ihres Vorsprungs, das Schlimmste befürchtend. Ihre Befürchtung erwies sich als richtig: Vor dem Höhleneingang lag ein schlafendes Ungeheuer.
Sie musterten den Rest der Höhle auf der Suche nach einem anderen Ausgang, doch ohne Erfolg.
»Ob wir uns an dem Ungeheuer vorbeischleichen können?« fragte Ivy. »Bevor es aufwacht?«
Hugo beäugte das Monster genauer. Es war humanoid, haarig und riesig. Zwischen ihm und der Wand des Höhleneingangs war keine einzige Lücke frei. »Dann müßten wir über seine Beine steigen«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß es dann noch lange weiterschlafen würde.«
»Vielleicht geht es ja bald von allein weg«, meinte Ivy.
Doch noch während sie sprach, rollte sich der Riese auf die andere Seite, so daß sein entsetzlich häßliches Gesicht ihnen zugekehrt war, und öffnete sein Auge.
»Ohhh«, machte Hugo.
Es war ein passender Kommentar, denn nun hatte der Riese sie erblickt. »Ho!« rief er mit einer Stimme wie marmorierter Donner und kletterte auf die Beine. Der Höhleneingang war hoch genug, um etwa zweieinhalb gewöhnliche Menschen einzulassen, die übereinander standen, jeder auf dem Kopf seines Untermanns, doch der haarige Schädel des Riesen hatte Mühe, oben nicht anzustoßen. »Zwerge in Höhle!« brüllte das aufgesperrte Maul.
»Los, rennt davon!« rief Hugo, einer plötzlichen Eingebung folgend.
Sie versuchten es. So glitten und krabbelten sie über den Boden – doch die einzige Richtung, in die sie fliehen konnten, war der Höhleneingang, und dort versperrte das Ungeheuer ihnen mit mächtigen haarigen und knorrigen Beinen den Weg. Sein riesiges Auge schien zu blitzen, während es sie musterte, und die gigantische Holzkeule, die aus dem Stamm eines mittelgroßen Eisenholzbaumes gefertigt worden war, schwebte drohend in der Höhe. So wichen die drei wieder zurück.
Doch der Riese folgte ihnen, indem er mit der Keule nach ihnen stach. »Was tut ihr in Höhle?« brüllte er so laut, daß sich Sand von der Höhlendecke löste und herabrieselte.
Ivy war zwar entsetzt, wußte aber, daß ihre Freunde tapfer waren. »Wir müssen gegen ihn kämpfen!« erklärte sie. »Wir zwingen ihn dazu, uns ziehen zu lassen.«
Hugo wechselte einen ungläubigen Blick mit Stanley. Die Logik der Frauen war unergründlich! Dann musterte er Ivy verständnislos. »Gegen ihn kämpfen?«
»Bewirf ihn mit Obst!« ermunterte sie ihn.
»Aber mein Obst ist doch faul!«
»Nein, ist es nicht!«
Da erinnerte er sich. »Stimmt ja, ist es gar nicht mehr! Aber faules Obst ist auch gut genug dafür.« Er zauberte eine überreife Tomate herbei und schleuderte sie dem Riesen entgegen. Sie traf ihn etwa auf mittlerer Leibeshöhe und bespritzte das grobe Tierfell, das ihn bekleidete, mit tropfendem Tomatenmark.
»Und du, Stanley! Mit deinem superheißen Dampf kannst du ihm die Zehen rösten!« feuerte sie den Drachen an.
Der feuerte wiederum seinen Dampf an. Er war jetzt wirklich superheiß, und der kleine Drache merkte, wie sein Mut zurückkehrte. Wenn Ivy glaubte, daß er etwas gegen den Riesen bewirken konnte, konnte er es vielleicht tatsächlich. Er spannte seine Muskeln an, richtete seine Schnauze zielgenau aus und ließ einen sengenden, glühendheißen Dampfstrahl entweichen, der den schwieligen, warzigen linken großen Zeh des Riesen erhitzte.
Der Riese blieb stehen; es dauerte einen Augenblick, bis er bemerkte, daß hier irgend etwas nicht ganz stimmte. Schließlich war es sehr weit von seinem Zeh bis zum Kopf, und der Schmerz brauchte seine Zeit, um sich durch seine schlecht gepflegten Nervenbahnen emporzukämpfen. Der betroffene Zeh begann nach verkochendem Fleisch zu duften.
Der Riese schnüffelte. Er fuhr sich mit einer langen, schlabbrigen Zunge über die Lippen. Das roch aber lecker!
Dann durchstieß der Schmerz endlich den Schlamm, der die letzte
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