Drachenauge
Bilde.
Jeder auf Pern hat die Freiheit, sich seinen Wohnsitz selbst auszusuchen, darf Versammlungen anberaumen und kann gegen überhöhte Tributzahlungen Protest
einlegen.«
»Wieso haben die anderen Burgherren Chalkin nicht
einfach davongejagt?«, fragte sie, wobei ihre Angriffslust ein neues Ziel gefunden hatte. »Es liegt doch klar auf der Hand, dass er unfähig ist, ein Gemeinwesen zu leiten, vor allen Dingen, wo ein Fädenfall bevorsteht.
Ich begreife nicht, wie man diesen Schurken noch auf seinem Posten belassen kann.«
»Sallisha, man braucht einen einstimmigen Be—
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schluss, um einen Burgherrn abzusetzen«, klärte er sie auf.
Einen Augenblick lang sah sie ihn verdutzt an. Dann errötete sie vor Verlegenheit. »Wer sperrt sich dagegen?«
»Jamson.«
Gereizt schnalzte sie mit der Zunge. »Das Hochland
ist ebenfalls ein Ort, an den ich mich niemals versetzen lassen würde. Die Kälte wäre reines Gift für meine Ge-lenke.«
»Das weiß ich, Sallisha, deshalb hatte ich schon überlegt, ob Ihnen für das kommende Jahr eine Stelle im Süden von Nerat Recht wäre.«
»Wie groß wäre mein Aktionsradius?« Ihrem Tonfall
entnahm er, dass sie nicht abgeneigt war.
»Sie müssten in sechs größeren Burgen und fünf kleineren Ansiedlungen unterrichten, doch die Entfernungen sind gering. Selbstverständlich reisen Sie nur an fä-
denfreien Tagen. Ausgezeichnete Unterbringung und
ein lukrativer Vertrag sind zugesichert. Gardner hat sich selbst davon überzeugt, dass Sie keine Unbequem-lichkeiten in Kauf nehmen müssten.« Er fasste in seine Rocktasche und zog ein Dokument heraus. »Ich dachte mir, Sie würden sich den Vertrag gern ansehen.«
»Wollten Sie mich damit milde stimmen?«, versetzte
sie mit einem beinahe koketten Lächeln, während sie die Hand nach dem Schriftstück ausstreckte.
»Sie sind meine beste Lehrkraft, Sallisha«, betonte er und überließ ihr den Vertrag.
»Trotzdem werde ich nicht dulden, dass Sie den Lehrplan bezüglich Prä-Perneser Geschichte drastisch kürzen, Clisser.«
»Damit hatte ich auch nicht gerechnet. Aber wir können nicht zulassen, dass Sie sich in den Ebenen von Keroon einer ernsthaften Gefahr aussetzen.«
»Ich hatte doch versprochen, ich käme zurück.«
»Die Leute haben sicher Verständnis dafür …«
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»Einige meiner Schüler sind hoch intelligent.«
»Wo auch immer Sie unterrichten werden, Sallisha,
Sie entdecken überall hoch begabte Leute. Sie besitzen halt die Gabe, das Beste aus einem Schüler herauszuho-len.« Mit diesen Worten überreichte er ihr ein dickes Bündel Papiere, den neuen Unterrichtsplan. »Studieren Sie das überarbeitete Lehrprogramm, Sallisha. Wer weiß, vielleicht dient es dazu, noch mehr Intelligenzpotenzial zu fördern.«
Sie starrte auf den Stapel Blätter, als sähe sie eine Tun-nelschlange vor sich.
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KAPITEL 12
Burg Hochland und Burg Fort
aulin saß mit Thea und Gallian in dem gemütlich
Pwarmen Sonnenzimmer der Burg Hochland, in dem
die Burgherrin am liebsten ihre Gäste empfing. »Besteht eine Möglichkeit, ihn umzustimmen?«, fragte er gespannt.
Thea zuckte die Achseln. »Nicht durch Argumentie—
ren, so viel steht fest. Er war wütend, weil in den beiden Prozessen einem Burgherrn die Macht abgesprochen wurde, mit seinen Untertanen nach Belieben zu verfahren. Die Urteile hielt er allerdings für gerecht.«
»›Man hätte diese Verbrecher samt und sonders auf
die Inseln verbannen sollen, denn wenn sie hier bleiben, stiften sie nur weiterhin Unheil‹«, ahmte Gallian die asthmatische Stimme seines Vaters nach. »Ich wünschte, er hätte mir die Vollmacht erteilt, ihn in sämtlichen offiziellen Angelegenheiten zu vertreten.«
Hilflos hob der junge Mann beide Hände. »Mein Vater ist sehr krank …«
»Moment mal. Er ist wirklich krank«, unterbrach Paulin ihn. »Und das hiesige Klima ist seinem Zustand sicher nicht sehr zuträglich.«
Theas Augen weiteten sich. Sie ahnte, worauf ihr
Gast hinauswollte.
»Wenn man ihn zur Erholung nach Ista oder Nerat
schickte, müsste er Gallian bevollmächtigen …«, begann sie.
»Genau!«
»Angenommen, er bekommt heraus, wie ich gestimmt
habe, obwohl er mir seine Ansichten bezüglich einer 306
Amtsenthebung klar und deutlich mitgeteilt hat …«, gab Gallian zu bedenken. »Dann könnte er mich aus der Erbfolge ausschließen.«
»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich, Gallian. Du weißt ja, welch geringe Meinung er von deinen jüngeren
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