Drachenauge
hatte. Dabei nieste ich fortwährend. Danach nahm Canell das Heft in die Hand – der Mann kann sehr überzeugend sein. Er erschrak über meinen fliegenden Puls und das glühende Gesicht. Meine Lunge und das angegriffene Herz woll-311
ten ihm gar nicht gefallen. Als er zum Schluss vor-schlug, ich solle mich zur Genesung nach Ista begeben, stimmte Jamson sofort zu, mich dorthin zu begleiten.
Das wäre also geschafft!« Sie strahlte über das ganze Gesicht.
»Mutter! Du bist unmöglich!«
»Sprich nicht so mit mir!«, schimpfte sie im Scherz.
Zur allgemeinen Überraschung fing sie plötzlich heftig an zu niesen.
»Na so was«, wunderte sich Gallian. »Das ist die Strafe, wenn man Lügengeschichten erzählt. Man kriegt, was man vorgegaukelt hat.«
»Dein Vater wollte noch mit dir sprechen. Mach dich also darauf gefasst …«
Es klopfte an der Tür. Gallian öffnete sie nur einen Spaltbreit. »Ja, sag Lord Jamson Bescheid, dass ich gleich zu ihm kommen werde«, beschied er dem Bediensteten und zog die Tür wieder zu.
»Ich bleibe bei Lord Paulin, bis du uns den Brief
bringst, Gallian«, erklärte Lady Thea, sich ein Glas Wein einschenkend. »Das Zeug hilft bei Erkältungen …
Möchten Sie nicht mit mir anstoßen, Paulin? Um mein Debüt als Schauspielerin zu feiern?«
»Nur schade, dass Ihnen diese List nicht schon früher eingefallen ist.«
»Ich bedaure es auch«, gab sie freimütig zu. »Die
armen Menschen. Wer wird eigentlich Chalkins Platz
einnehmen, wenn er fort ist? Und was geschieht mit
diesem Kerl?«
»Darüber wird noch entschieden.«
»Wir hatten das Thema vorhin angeschnitten, Mutter«, ergänzte Gallian. »Da wäre Vergerin, sein Onkel; der Bruder von Chalkins Vater.«
»Aber Vergerin hat doch sein Anrecht auf Erbfolge
verspielt«, hielt Thea ihrem Sohn entgegen.
»Das haben Sie auch gehört?«, wunderte sich Paulin.
Thea nickte. »Das Glücksspiel steckt diesen Leuten
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im Blut. Kein Einsatz ist ihnen zu hoch Trotzdem finde ich es ein starkes Stück, um ein Erbfolgerecht zu hasar-dieren.« Sie blickte angewidert drein.
»Vielleicht hat Vergerin seine Lektion gelernt«, überlegte Gallian. Er klang ein bisschen herablassend, fand Paulin.
»Vielleicht«, stimmte Paulin ihm zu. »Die Frage ist nur, ob er überhaupt noch am Leben ist.«
»O nein!« Entsetzt hob Thea die Hände.
»Falls die Ratsversammlung Chalkin absetzt …«
»Nicht falls , Gallian, sondern wenn «, korrigierte Paulin ihn.
»Also schön. Wenn Chalkin erst einmal zum Abdan—
ken verurteilt ist, wie holt man ihn aus seiner Festung heraus?«, fragte Gallian.
»Darüber muss sehr sorgfältig nachgedacht werden«,
räumte Paulin ein. »Wir brauchen einen ausgeklügelten Plan, damit das Urteil auch vollstreckt werden kann.
Aber Sie sollten jetzt Ihren Vater aufsuchen, Gallian.
Lassen Sie ihn lieber nicht zu lange warten. Sonst ändert er noch seine Meinung.«
»Nicht, wenn es um Mutters Gesundheit geht«, meinte Gallian im Brustton der Überzeugung, stand aber auf und verließ den Raum.
»Versprechen Sie mir, Paulin, dass Gallians Recht auf die Leitung der väterlichen Burg gewahrt bleibt, auch wenn er sich offen seinem Vater widersetzt«, bat Thea und legte eine Hand auf Paulins Arm.
»Ich gebe Ihnen mein Wort«, bekräftigte Paulin feierlich und tätschelte ihre Hand.
Vier Tage später, nachdem Lord Jamson und Lady Thea sicher in Burg Ista angekommen waren, versammelten sich die übrigen Burgherren und Burgherrinnen sowie die Weyrführer in Telgar und saßen über Lord Chalkin zu Gericht. Man befand ihn für schuldig, seine Pflichten verletzt und anständige Pächter tyrannisiert zu haben.
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Als Beweis lagen Iantines Skizzen vor sowie die Proto-kolle der beiden vorhergehenden Prozesse gegen Chalkins Grenzwächter.
Ein weiterer Anklagepunkt war die Tatsache, dass er ausdrücklich verboten hatte, seine Untertanen über die Existenz einer Verfassung aufzuklären, die die Rechte und Pflichten der Burgherren sowie der Pächter regelte.
Hierzu machte Issony eine Aussage.
Als Gallian an die Reihe kam, seine Entscheidung
kundzutun, stimmte er in nüchternem Tonfall für eine Amtsenthebung Chalkins. Zuvor hatte er nachgewie-sen, dass er befugt war, Burg Hochland in sämtlichen Angelegenheiten offiziell zu vertreten.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Tashvi und
rieb sich erleichtert die Hände. Jedermann atmete auf, als das Urteil über Chalkin feststand.
»Wir müssen Chalkin über
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