Drachenauge
von den beiden Lords los und stürzte sich schnurstracks auf Vergerin.
»Du Schuft! Gauner! Lump! Du hast mich verraten.
Du hast dein Wort gebrochen. Das alles habe ich dir zu verdanken.«
Bastom und Bridgely fingen Chalkin wieder ein und
hinderten ihn daran, Vergerin anzugreifen, der indessen nicht daran dachte, sich vor seinem aufgebrachten Neffen zu ducken.
»Das hast du mir angetan. Du bist der Urheber des
Ganzen!«, brüllte Chalkin und übertönte mit seiner sich 329
überschlagenden Stimme sogar das Zetern der Kinder.
Langsam, mit ausdruckslosem Gesicht, wandte sich
Vergerin von ihm ab.
Dann wurde Lady Nadona Vergerin gewahr, und ihr
hasserfülltes Organ schraubte sich schrill in die Höhe.
»Erst nimmst du mir meinen Mann weg, und nun
stehst du da und wartest nur darauf, von meiner Burg Besitz zu ergreifen, meine Kinder um ihr rechtmäßiges Erbe zu bringen … Oh, Franco, wie kannst du nur zulassen, dass man deine Schwester so schändlich behandelt?« Sie warf sich an Francos Brust.
Ohne mit der Wimper zu zucken befreite sich der
Burgherr von Nerat aus der Umklammerung seiner
hysterischen Schwester, wobei ihm Zulaya und Laura
von Ista zu Hilfe kamen. Nadona trug noch ihr Nacht-gewand mit einem Morgenmantel darüber, der jedoch vorne offen stand.
Richud hatte die beiden Jungen bei den Armen gepackt, und seine Gemahlin kümmerte sich um die beiden weinenden Mädchen, die nicht wussten, was passierte, sich aber von der Hysterie ihrer Mutter anstecken ließen. Irene bereitete es eine gewisse Genugtuung, Nadona ein paarmal ins Gesicht zu schlagen, um sie wieder zur Vernunft zu bringen.
Paulin führte Vergerin durch die nächste Tür, hinter der sich Chalkins Arbeitszimmer befand. Karaffen voller Wein gehörten zum unabdingbaren Bestandteil dieses Büros, und Paulin schenkte rasch zwei Gläser ein.
Vergerin nahm das seine und leerte es in einem Zug, worauf gleich ein wenig Farbe in seine eingefallenen Wangen stieg. Er atmete hörbar aus.
Paulin, dem Vergerins Selbstbeherrschung in dieser
konfliktträchtigen Situation imponierte, klopfte ihm anerkennend auf den Rücken.
»Sie müssen sich die größten Vorwürfe gemacht
haben«, meinte er.
Vergerin murmelte etwas vor sich hin, dann straffte 330
er die Schultern. »Am meisten quälte mich die Erkenntnis, dass mein eigener Neffe mich zum Narren gehalten hatte. Ich kann gar nicht mehr begreifen, wie dumm ich damals war. Man kann vieles verzeihen, aber nicht seine eigene Torheit.«
Durch die dicken Steinwände und trotz der massiven
Tür hörten sie Chalkins wütende Proteste. Das Geschrei klang gedämpfter, als man ihn nach draußen und die Treppe zum Burghof hinunter zerrte.
Lady Nadona begleitete ihren Gemahl nicht ins Exil.
Sie hatte sich von ihrem Weinkrampf bemerkenswert
schnell erholt. Rasch gelangte sie zu dem Entschluss, dass sie ihre geliebten Kinder nicht diesen herzlosen Männern und Frauen ausliefern durfte, und sie verkündete, sie wolle das Opfer bringen und in Bitra bleiben, derweil man ihren Gatten in die Verbannung schickte.
Sie erwies sich als äußerst bewandert in den einzelnen Artikeln der Verfassung, die ihre Rechte als Mutter und ehemalige Burgherrin garantierten. Selbst die kleinsten Details kannte sie auswendig.
Abermals erklang cholerisches Geschrei und Krakee—
len. Seufzend begab sich Paulin an das verriegelte Fenster und öffnete es. Im Hof spielte sich eine unglaubliche Szene ab. Fünf Männer bemühten sich, Chalkin auf Craigaths Rücken zu heben, während der Drache mit vor Erregung rot und orange glühenden Augen den
Hals verrenkte um mitzubekommen, was sich hinter
ihm tat.
Jählings erschlaffte Chalkins Körper, und man verfrachtete ihn hinter Craigaths Nackenwulst. M'shall schwang sich in den Sattel und wartete, bis die Helfer Chalkin festgeschnallt und an dem Reitgeschirr etliche Gepäckstücke befestigt hatten, die der ehemalige Burgherr auf die Insel mitnehmen durfte.
Mit einem gewaltigen Satz sprang Craigath in die
Höhe und spreizte nur einmal seine mächtigen Schwingen, ehe er ins Dazwischen abtauchte.
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»Schickt ihr ihn in den südlichen Archipel?«, fragte Vergerin und goss sich Wein nach.
»Ja, aber er kommt auf eine andere Insel als seine
Wachleute. Glücklicherweise herrscht in diesen Breiten kein Mangel an einsamen Eilanden.«
»Young Island wäre der sicherste Ort für ihn«, bemerkte Vergerin trocken und nippte an seinem Wein.
Dann verzog er das Gesicht und
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