Drachenblut
glückliche Gewinner kaum wieder freiwillig von seiner Beute trennen wollte. Kaum hatte der Platzwart einen Ersatzball organisiert und auf das Spielfeld geworfen, flog auch der verloren geglaubte Ball unerklärlicherweise wieder zurück auf das Spielfeld. Das Spiel war natürlich inzwischen schon wieder weitergegangen, aber auch der zweite Ball wurde von den Spielern begeistert aufgenommen. So entbrannte auf dem Grün an zwei ständig wechselnden Stellen gleichzeitig der Kampf um das Leder. Das konnte auch der Schiedsrichter nicht unterbinden. Die Spieler waren viel zu sehr in das Spiel vertieft, um den Unparteiischen wahrzunehmen, der vergeblich in die Trillerpfeife blies, bis ihm die Backen schmerzten.
Schon bald wurde allen klar, dass man niemandem mehr vertrauen konnte. Die Mannschaftsstrukturen lösten sich auf, und es wurde allgemein auf das Tor gespielt, das einem gerade am nächsten war. Am Ende zählten nur die Treffer, wen kümmerte es da, auf welches der beiden Tore geschossen wurde? Auch die Regeln des fairen Zusammenspiels wurden außer Kraft gesetzt. Wo die Fußballer mit ihrer Kondition am Ende waren, rettete ein deftiges Foul allemal die Situation.
Im Gegensatz zum Schiedsrichter schien den Zuschauern das bunte Treiben auf dem Rasen zu gefallen. Endlich war im Stadion mal was los. Man konnte beinahe den Eindruck gewinnen, als fordere das Publikum die Mannschaften geradezu zu Regelverstößen auf, und das ließen sich die Spieler natürlich nicht zweimal sagen.
Unterdessen lehnte Stanley am Torpfosten und betrank sich dort mit dem Torwart und den beiden Abwehrspielern. Diese kannten ihren Gönner noch aus der Zeit, in der er noch nicht aus dem Verein für Bewegungsspiele ausgeschlossen worden war und die wussten, dass Stanley immer einen guten Tropfen zur Hand hatte.
»Seht mal, wer da kommt!« Der Torwart zeigte auf Haddock, der irgendwie in den Besitz des Balles gelangt war, sich mit verbissenem Gesicht dem Strafraum näherte und seine Chance gekommen sah.
»Hey Glatzmann! Möchtest du ein Schlückchen mit uns trinken?« Stanley hielt den Flachmann in die Höhe und prostete seinem Kameraden zu.
Haddock ignorierte die Einladung und setzte seinen Angriff mit unvermindertem Eifer fort. Aber die drei hatten schon lange erkannt, dass er sich vergeblich mühte, weil sich Elvis von hinten an Haddock herangemacht hatte, um ihm ein Bein zu stellen. Die Zuschauer riss es begeistert von den Bänken, als Haddock anstelle des Balles in das Tor purzelte und sich im Netz verhedderte. Elvis ließ sich von der Menge feiern, nur der Schiedsrichter war von der Aktion nicht angetan. Selbst für die gegebenen Verhältnisse war das ein grobes Foul. Als er sich die Verfehlung für den späteren Spielbericht notierte, schoss ihm Elvis den Ball von hinten an den Kopf, dass dem Unparteiischen die Brille von der Nase flog.
Die Zuschauer rasten. Fahnen wurden geschwenkt, Programmhefte wurden zerrissen und regneten als Konfetti hernieder. Auch ein struppiger Hund griff in das Spielgeschehen ein. Nachdem er die beiden Fußbälle aus dem Spiel genommen hatte, jagte er die Fußballspieler kreuz und quer über den Rasen. Nicht wenige wunderten sich, wie schnell die Spieler laufen konnten, wenn sie nur wollten. Die Veranstaltung hatte zweifellos ihren Höhepunkt erreicht, aber ohne seine Brille sah sich der Schiedsrichter außerstande, die Partie zu leiten. Der Veranstalter hatte schließlich ein Erbarmen, und das Spiel wurde beim gegenwärtigen Stand abgebrochen und für unentschieden erklärt.
Es war schon lange dunkel geworden, als der Schiedsrichter noch immer auf der Suche nach seiner Brille auf dem Rasen umherkrabbelte. Irgendwann stieß er mit seinem Kopf gegen ein Hindernis. Es war Schwester Franklin, die ebenfalls auf allen vieren über das Spielfeld kroch und alles sehr, sehr lustig fand.
»Sagen Sie, Sie hätten nicht zufällig meine Brille gesehen, meine Gnädigste?«
»Ihre Brille? Haha, das ist gut. Ihre Brille, also die hat der Märzhase, haha!«
Und von irgendwo her war eine zaghafte Stimme zu hören. »Hallo, hallo! Würde mir vielleicht jemand aus dem Netz helfen?«
37
Die Stadt war laut und hektisch und stöhnte unter der Sommerhitze. Das war kein Platz für ein kleines Mädchen, das hinaus in die Welt ziehen wollte, um die Wunder der Erde kennenzulernen. In den Büchern ihres Großvaters hatte sie von den Palästen und
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