Drachenblut
Schüler warteten ungeduldig darauf, ordnungsgemäß registriert und eingelassen zu werden. Die Eltern, die sich offensichtlich über den wahren Charakter der Veranstaltung nicht ganz im klaren waren, bemühten sich redlich, ihre quengelnden Kinder, die an einem Sonntag wie diesem ihre Zeit viel lieber auf dem Fußballplatz oder im Schwimmbad verbracht hätten, zu Ruhe und Ordnung zu ermahnen. Ein paar der jüngeren Schüler waren dem Druck des Ereignisses nicht gewachsen und weinten, aber so, dass es ihre Kameraden nicht sehen konnten. Anderen Kindern wiederum war es sichtlich unangenehm, wie sich ihre Eltern gegenseitig mit den Kunstwerken der Zöglinge brüsteten und darüber zuweilen heftig miteinander in Streit gerieten.
Arthur schien sich in diesen kritischen Augenblicken als einziger auf den Beginn der Veranstaltung zu freuen und wirkte daher in der Reihe der Wartenden wie ein Fremdkörper. Da war nur noch die Frage, ob er ungehindert durch den Einlass gelangen würde. Ein Stoß in den Rücken trieb Arthur vorwärts, und er rückte seiner Prüfung ein Stückchen näher. Der Mann an der Registratur war furchtbar beschäftigt, weil er in all dem Durcheinander den Überblick über seine Listen verloren hatte. Mehrere Eltern umringten den Unglücklichen, rempelten, schubsten, schwenkten aufgeregt irgendwelche Anmeldeformulare vor dessen Nase herum und mischten sich in Dinge ein, von denen sie keine Ahnung hatten. Diese todsichere Gelegenheit konnte sich Arthur natürlich nicht entgehen lassen, und er schlich sich unauffällig an der Menge vorbei.
»Einen Augenblick, der Herr!«
Arthur zuckte wie ein Schuljunge zusammen, den man beim Abschreiben erwischt hatte. Der Mann von der Registratur befreite sich mühsam aus dem ihn umgebenden Menschenknäuel und stellte sich Arthur in den Weg.
»Das können Sie hier aber nicht abstellen. Heute findet die Kunstausstellung der Schule statt und …«
»Prima, da bin ich doch genau richtig!« fiel ihm Arthur ins Wort und ging in die Offensive. »Das ist von meinem Sohn, wissen Sie, er hat lange und hart daran gearbeitet. Es wäre ein Jammer, wenn der Herr Rektor, übrigens ein guter Freund der Familie …«
»Oh, pardon! Das konnte ich ja nicht ahnen.« Der Angestellte nahm sofort Haltung an. Weil er aber noch nicht restlos überzeugt war, hakte er nochmals nach. »Und wo ist denn ihr Sohn? Warum bringt er seine Arbeit nicht selber her?«
Arthur tat geheimnisvoll und deutete auf die Apparatur in seinen Händen. »Schhhh, mein Sohn ist hier drin!«
»Wo drin? Ich kann nichts sehen.«
»Natürlich ist er nicht zu sehen, zumindest nicht jetzt. Er ist virtuell anwesend, aber das werden Sie noch verstehen. Vielleicht.«
Arthur wollte das Konzept seiner Arbeit nicht verraten, nicht diesem Lakaien. Es würde an dieser Stelle viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen, einem Blinden das Sehen beizubringen, und manche Zeitgenossen konnten oder wollten selbst mit geöffneten Augen nichts erkennen.
Der Angestellte kniff die Augen zusammen, besah sich nochmals das Ding in Arthurs Händen und versuchte vergeblich, seinen Wahrnehmungen einen Sinn zu geben. Sein Blick verfing sich in einem Gewirr von Drähten, Schläuchen, Kabeln und optischen Leitungen, die wie ein Geflecht von Adern und Nervenbahnen um eine zentrale Einheit wucherten, in deren Mitte er immerhin einen kleinen Bildschirm ausmachen konnte. Unter dem Bildschirm waren die Insignien des Künstlers angebracht. Arthur, T.S. stand auf dem Namensschild, und das war, zumindest was Arthur betraf, in jeder Beziehung wahr. Er begriff das Objekt in seinen Händen tatsächlich als etwas, was er unter Schmerzen geboren und in die Welt gesetzt hatte. Außerdem hatte sich Arthur bei der Konstruktion seines Objektes mit dem Hammer heftig auf die Finger geschlagen, seither zierte ein stattlicher Bluterguss den Daumennagel. Der Angestellte schaute abwechselnd auf Arthur und das merkwürdige Objekt in dessen Händen und lächelte mitleidig. Mit einem Kopfschütteln trug er dann Arthurs Namen in die Teilnehmerliste ein und drückte ihm noch eine Nummer in die Hand, als sei es ein Almosen.
»Hier, viel Erfolg. Aber vielleicht haben Sie und ihr Sohn Glück, es gewinnt ja nicht immer der Bessere.«
Arthur nahm den sarkastischen Unterton brüskiert zur Kenntnis und marschierte in die Halle ein, in der es bereits von Kindern und Eltern nur so wimmelte.
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