Drachenblut
kaum bei Sinnen war, die Fahrt hätte ihr sonst bestimmt gut gefallen, weil sie sich schon immer einmal gewünscht hatte, in einem Feuerwehrauto oder einem Krankenwagen mitfahren zu dürfen.
Die Untersuchung in der Notaufnahme ergab zunächst keinen genauen Befund. Äußerlich konnten die Ärzte keine Verletzungen erkennen. Es konnten weder Frakturen noch offene Wunden diagnostiziert werden, und es bedurfte einer Reihe intensiver medizinischer Tests, um die Ursache für ihren labilen Zustand herauszufinden. Schließlich ergab eine Analyse im Labor, dass ihre Blutwerte krankhaft verändert waren. Als man daraufhin den Bauch des kleinen Mädchens genauer untersuchte, bestätigte sich ein Verdacht, von dem die Ärzte gehofft hatten, dass er nicht zur Gewissheit werden würde.
+++ Patient #9-C, weiblich, Donnerstag, zweiter sechster. Absatz. Nach eingehendem Studium der zur Prüfung und medizinischen Beurteilung vorgelegten Ultraschallbilder kann mit hoher Wahrscheinlichkeit ein faustgroßes Karzinom im Bereich der Pankreas diagnostiziert werden. Absatz. Der Befall anderer intraabdomineller Lymphknoten liegt nahe, ein tubuläres Adenokarzinom kann nicht ausgeschlossen werden. Störungen der Magenperistaltik sind zu dokumentieren, dadurch Hinweise auf chronisch-atrophische Borderline-Läsion des Magens. Absatz. Zur Behandlung sind mehrere Modelle denkbar. Eine subtotale Pankreasresektion oder Duodenopankreatektomie, das müssen weitere Testreihen zeigen. Vorgeschlagen werden hierzu Lipaseprovokationstests, evtl. Sekretin-Pankreozymin-Tests und NBT-PABA Prüfungen. An diesen Resultaten müssen sich die therapeutischen Maßnahmen orientieren. Absatz … Mein Gott, das arme Kind … Letzten Absatz streichen. Neuer Absatz, Datum und Unterschrift. +++
Als das kleine Mädchen wieder aus der Narkose erwachte, glaubte sie schon, im Himmel zu sein. Alle Last war von ihr abgefallen, ihr Verstand hatte keinen Bezug mehr zu einem Körper, der sie mit Schmerzen quälte. Sie lag in einem weichen Bett aus Wolken, über ihr spannte sich ein weißer Schleier über den Horizont, und dann erschien ihr ein Engel mit goldenem Haar.
Schwester Franklin hatte heute Frühschicht. Das Tablett, das sie in den Händen trug, war leider keine Harfe, wie das Mädchen zu ihrem Bedauern feststellte. Dafür lächelte die Schwester, wie das nur ein Engel konnte.
»Guten Morgen, kleines Fräulein.« Mit einer schwungvollen Handbewegung nahm Schwester Franklin eine Tasse Früchtetee von ihrem Tablett und reichte es dem kleinen Mädchen. »Hier, trink etwas, das wird dir gut tun.«
Schüchtern nahm das Mädchen den Tee entgegen. Ihre zierlichen Finger umschlossen die heiße Tasse wie einen kostbaren Schatz, den es für immer festzuhalten galt, und sie genoss die Wärme, die ihr die Tasse nach den vergangenen Stunden der Dunkelheit und Kälte spendete.
»Anschließend darfst du noch diese herrlichen Tabletten schlucken, dann geht es dir gleich wieder besser!« Schwester Franklin präsentierte ein Schälchen, in dem gut ein Dutzend verschiedener Pillen, Kapseln und Tabletten lagen, von denen eine bunter als die andere war und von denen die meisten eine schmerzstillende oder beruhigende Wirkung hatten. »Na, wenn das kein Leckerbissen ist!« Beim Anblick der Tabletten war die Schwester ganz aus dem Häuschen.
»Sind denn meine Eltern hier?« wagte das kleine Mädchen zu fragen, ohne die Begeisterung für die Medikamente zu teilen.
»Ich bin mir sicher, dass deine Eltern nach dir sehen werden, sobald sie Zeit dazu haben.« Das war ein schwacher Trost, Schwester Franklin war sich hierüber im Klaren, aber was sollte sie schon einem Mädchen erzählen, dessen Eltern es auch nach vier Tagen noch nicht für nötig erachtet hatten, ihre Tochter im Krankenhaus zu besuchen. »Kopf hoch, Fräulein, bald kannst du wieder mit deinen Freunden draußen auf der Wiese spielen, ist das nichts?«
An der Reaktion des kleinen Mädchens war zu erkennen, dass sie auch nicht mit der Aussicht auf baldige Entlassung aufzuheitern war. Aber so schnell wollte Schwester Franklin nicht aufgeben, und sie besann sich auf einen alten Trick, um das Kind doch noch auf andere Gedanken zu bringen. Geschwind suchte sie sich aus den Tabletten drei herrliche Exemplare heraus, warf sie nacheinander in die Luft und jonglierte sie gekonnt im Kreis herum. Das Mädchen staunte nicht schlecht, aber das wäre noch lange nicht alles,
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