Drachenblut
Apparaten blinken. Es dauert nicht lange, da werden aus den Lämpchen große Augen, die in der Dunkelheit funkeln und die dich argwöhnisch beobachten. Nachts rücken die Wände des Krankenzimmers in die Ferne, dafür rücken Geräusche näher heran, Geräusche, die von draußen in das Vakuum der Dunkelheit eindringen, dumpfe Stimmen, heimliches Geflüster, unterdrücktes Schreien und gequältes Stöhnen.«
Schwester Franklin illustrierte ihre Geschichte mit einer repräsentativen Auswahl dieser Geräusche. Sie konnte aus ihrer Erfahrung als Krankenschwester auf einige wirklich bemerkenswerte Beispiele zurückgreifen. Also hustete, röchelte und keuchte Schwester Franklin, wobei sie vielleicht ein wenig übertrieb, weil bald nicht mehr zu unterscheiden war, wo denn nun das Spiel aufhörte und der Ernst begann. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, und ihre Pupillen waren weit geöffnet. Sie beeilte sich, aus der Tasche ihres Mantels eine silberne Dose zu ziehen, aus der sie mit zitterigen Fingern eine Prise eines weißen Pulvers entnahm. Dieses rieb sie sich in die Nase, bevor sie selber ein Fall für die Intensivstation wurde.
»So, wo war ich stehen geblieben?« Die Schwester rückte ihr Häubchen zurecht, nahm noch einen Schluck Tee und versuchte, den Faden wieder zu finden. »Es ist aber nicht die Dunkelheit selbst, die das Grauen in sich birgt, es ist die Einsamkeit und … die Leere des Raumes, in den diese Geräusche wie wilde Tiere eindringen, Bestien, die sich in der Schwärze des Dschungels heranpirschen, um sich dann mit einem furchtbaren Brüllen auf ihr Opfer zu stürzen … Dazwischen Melodien, sie schweben im Raum, dringen in meine Poren ein und nehmen Besitz von meinem Körper … Kannst du diese Farben riechen, kleines Fräulein? Den Geschmack von Schwerelosigkeit und … wieder diese Geräusche, sie kommen immer näher, dieses grässliche Gurgeln und Husten, dieses gedehnte Röcheln, das der verfaulten Kehle eines kranken Menschen entstammt … Explosionen von Grün, Blau, Rot! Ein Tunnel voller Licht … Jawohl Kleines, es ist nichts … äh, es ist nachts, wenn sich die Patienten von ihren Lagern erheben, es ist nachts, wenn die Horden mit schweren Schritten durch die Gänge des Krankenhauses ziehen …«
Schwester Franklin hielt es nun nicht länger am Bett des kleinen Mädchens aus. Sie sprang auf und presste sich beide Hände auf die Ohren. Ihre Augen waren zwei schwarze Löcher, hinter denen sich diese Leere verbarg, von der sie eben erzählt hatte und in die sie jetzt selbst zu stürzen drohte. »… Aber wo ist denn nur der Hase geblieben?«
Ein Hase war weit und breit nicht zu sehen. Dafür drehte sich Schwester Franklin im Kreise, nahm ihre Haube vom Kopf und schleuderte sie in einem spontanen Anfall von Begeisterung in die Luft. »Komm, lass uns barfuß durch den Morgentau wandern, lass uns Blumen ins Haar winden, lass uns … frei sein!«
Dann hüpfte Schwester Franklin ausgelassen durch das Zimmer und trällerte dazu ein Kinderlied, das sie irgendwo einmal gehört hatte. Ihre Begeisterung schien keine Grenzen mehr zu kennen, und sie versuchte vergeblich die Glückstropfen zu fangen, die sich in den verschiedensten Farben und Formen im Raum materialisierten und vor ihrer Nase durch den Äther schwebten. »Der Märzhase, wer hat den Märzhasen gesehen?«
»Der Hase ist eben zur Tür hinaus!« rief das kleine Mädchen, um sich mit der Schwester einen Spaß zu erlauben.
Schwester Franklin reagierte wie der Blitz. »Halt! Dageblieben!« Sie drehte sich um und versuchte das Tier zu erhaschen. Dabei knallte sie in gebückter Haltung mit dem Kopf gegen die geschlossene Tür. Der falsche Hase hoppelte unbeeindruckt in den Gang hinaus und verschwand um die Ecke. Vor den Augen der Schwester erschienen helle Sternchen und farbige Punkte. Das war ein authentischer Fall von Synästesie, der keineswegs nur auf Einbildung beruhte, sondern eine unmittelbare Folge der Kopfschmerzen war, die sie wieder zur Räson brachten. So schnell wie sie die Kontrolle über sich verloren hatte, so schnell hatte sie sich wieder im Griff.
»Also dieser Früchtetee, der hat es ja wirklich in sich! Ich glaube, für heute ist es genug. Den Schluss der Geschichte erzähle ich dir ein andermal.«
Infolge ihres Bewegungsdranges war die Schwester heftig ins Schwitzen geraten. »Mein Gott, ist das eine Hitze hier drin!« Sie fächelte sich mit der
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