Drachenblut
seinen eigenen geworden waren.
Ein Datenstrom zog vorbei, schlängelte sich neugierig um den Fremden, der seinem Gefängnis nicht mehr entkommen konnte, und ließ sich dann weiter tragen vom Sog der Elektronen, um irgendwo in einem Rechner einen Auftrag zu erfüllen oder eine verschlüsselte Botschaft an einen weit entfernten Ort zu transportieren.
Virgil warf sich wieder und wieder gegen das Fenster, bis er erschöpft zu Boden sank. Ob es half, wenn er seine Augen schloss und sich ganz fest konzentrierte, damit sich seine Lage als Trugbild auflösen konnte? Seine Gedanken überschlugen sich bei dem Versuch, seine Situation in aller Konsequenz zu begreifen und eine Erklärung für das Unvermögen des Programms zu finden, ihn aus der virtuellen Scheinwelt zu entlassen. Er war sich nicht einmal sicher, ob sein Leben, ja seine gesamte Existenz womöglich doch nur ein Traum war. Aber war es ein Traum, der jetzt erst angefangen hatte, oder war es gar ein Traum, der gerade zu Ende gegangen war?
30
Müde und abgespannt kam Gott von der Arbeit nach Hause. Er warf die aufblasbaren Schwimmhilfen in die Ecke, hängte seinen durchnässten Mantel an der Garderobe auf einen Kleiderbügel und begab sich ins Medienzentrum. Dort ließ er sich mit einem Seufzer in den Ohrensessel fallen und streckte seine Füße von sich. Der Sessel war sein ganzer Stolz, ein antikes Stück, das mit rotem Samt bezogen war und dessen Armlehnen kunstvoll mit Goldbrokat verziert waren. Im Vatikan befand sich übrigens der gleiche Sessel, der Heilige Vater pflegte während seiner Audienzen darauf Platz zu nehmen. Allerdings konnte dieses Sitzmöbel nicht die kostbaren Silberstickereien aufweisen, die das göttliche Modell so einmalig machten.
Mal sehen, was es im Fernsehen gab. Gott nahm die Fernbedienung, schaltete wahllos einen Sender ein, und nach wenigen Sekunden des Aufwärmens feuerte die Kathodenstrahlenröhre los.
Ein historischer Monumentalfilm stand auf dem Programm, ein billiges Machwerk, das nicht in allen Punkten genau recherchiert war. Der Begriff »künstlerische Freiheit« wurde hier doch sehr gedehnt. Aber was konnte man schon von einem italienischen Schnellschuss erwarten, in dem die römischen Legionäre von denselben Schauspielern dargestellt wurden wie die Gläubigen, die man in der Arena ans Kreuz geschlagen hatte und die nun, ebenso wie die jubelnde Menge (auch hier wieder einige bekannte Gesichter), gespannt auf den großen Auftritt der Löwen warteten.
Aber Schluss damit, wo war die Fernbedienung?
Einen Kanal weiter wurde eine oberflächliche Diskussion über die persönlichkeitsspaltende Wirkung des Fernsehens übertragen. Schade, dass er nie gefragt wurde, dachte Gott, man hätte bestimmt gestaunt, was er zu diesem Thema zu sagen gehabt hätte.
Auf Kanal 34 flimmerte ein französisches Schmuddelfilmchen über die Mattscheibe. Beim diesem Anblick schüttelte Gott seinen Kopf. Was sich die Fernsehleute heutzutage alles einfallen ließen, nur um die Zuschauer bei der Stange zu halten. Die Geschichte näherte sich gerade ihrem Höhepunkt. Ein seniler Pfarrer verspürte den Frühling im Herbst und versuchte sein Stubenmädchen zu verführen, ein junges und unerfahrenes Ding, das glatt seine Tochter hätte sein können.
»Aber Herr Pfarrer, das meinen Sie doch nicht im Ernst, was Sie da alles sagen. Und morgen ist dann wieder alles vergessen.«
»So weiset mich nicht von Euch, holdes Kind. Einen Kuss nur begehr ich, Eure süße Lippen zu kosten, danach steht mir der Sinn.«
Das Stubenmädchen kicherte verlegen und kokettierte doch auf eine dermaßen offensichtliche Art, die ihre naiv dargebotene Schüchternheit zur Farce werden ließ. Das blieb auch dem Pfarrer nicht verborgen, und er fühlte sich sogleich zu einer Offensive ermutigt. Doch der erneute Vorstoß wurde jäh zurückgeschlagen. Eine Ohrfeige trieb das Blut durch die Wangen des Gottesdieners, was aber mehr zu dessen Ansporn als zu seiner Ernüchterung beitrug.
»Welch Feuer, welch Leidenschaft in Eurer Brust erglüht. Feuer, das mich verzehrt, Leidenschaft, die mich zum Sklaven Eurer Schönheit macht. Geliebtes Kind, Blume der Nacht, lasst mich am Nektar der Liebe kosten!«
Der Geistliche war ein alter Hase. Seine Erfahrung sagte ihm, dass die Ohrfeige das letzte Aufbäumen war. Der Trick mit der Blume der Nacht zog immer, denn es war noch nie ein Fehler gewesen, an die
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