Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
diesen Schreien und die Gier, um jeden Preis zu überleben, koste es, was es wolle. Und dann standen sie am Rand des großen Platzes vor der Goldenen Pforte. Ein gestürzter Ankerturm hatte einen Wall aus Schutt quer über die weite Fläche gelegt. Von den Lagerhäusern, die ihn einst umgeben hatten, reichten Zungen aus Ziegelstein und gesplitterten Balken über das Pflaster. Plünderer wühlten zwischen den Ruinen nach Schätzen, entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen und unerwartet als reiche Männer heimzukehren.
Unübersehbare Menschenmengen drängten dem magischen Tor entgegen. Erbarmungslos schlugen sie einander nieder, krochen über die Gestürzten hinweg, schrien und meuchelten, um zum Tor zu gelangen, denn sie alle hatten begriffen, Sicherheit gab es allein jenseits der Goldenen Pfade.
In dem Augenblick, als Bidayn die Menge sah, wusste sie, dass sie und Lyvianne niemals mit heiler Haut auf die andere Seite des Platzes kommen würden. Selbst wenn sie bereit wären, Gewalt anzuwenden. Es waren zu viele Menschenkinder dort, und ständig drängten neue aus den Trümmern der Stadt nach. Was sie sah, war ein Mahlstrom aus Fleisch, und er verschlang mehr Leiber, als er ausspie.
»Du musst es wieder tun«, sagte Lyvianne.
Bidayn verstand nicht, was ihre Meisterin meinte.
»Damals, als du dir deine Narben geholt hast, hast du den Lauf der Zeit für dich verändert. Du hast dich so schnell bewegt, dass alle um dich herum wie erstarrt gewirkt haben. Du hast mir davon erzählt. Das musst du wieder tun, sonst werden wir dieser Stadt nicht entkommen.«
Bidayn schüttelte entschieden den Kopf. Das war genau jener Zauber gewesen, für den sie mit ihren Narben bezahlt hatte. Das magische Netz, das sie zu stark manipuliert hatte, hatte sich gegen sie gewandt. Wenn sie diesen Fehler ein zweites Mal beging, wäre alles vergeblich gewesen. Sie wollte diesen Schmerz nicht noch einmal fühlen, nicht noch einmal zur Aussätzigen werden.
»Ich kann das nicht …«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich …«
»Wir werden sterben, wenn wir nicht schnell flüchten«, drängte Lyvianne. »Die Devanthar werden kommen, um zu sehen, was hier geschehen ist. Sie werden sehr schnell begreifen, dass Nangog Hilfe hatte. Was, glaubst du, werden sie mit uns tun?« Lyvianne strich über den Griff des Schwertes an ihrer Seite. »Ich werde mir lieber selbst die Kehle durchschneiden, als mich lebend von den Devanthar fangen zu lassen. Noch lieber würde ich allerdings entkommen. Zeig mir, was zu tun ist!«
Bidayn zögerte. Dann dachte sie an den unheimlichen Ebermann. Lyvianne hatte recht, ihnen blieb keine Wahl. Aber sie würde den einen Zauber, in dem sie ihrer Meisterin voraus war, nicht verraten. Sie schloss die Augen und griff nach dem Netz der Kraftlinien, das alles durchdrang. Deutlich spürte sie die Pfade, die zum Albenstern hinführten. Starke, pulsierende Linien, die sich von der Matrix Nangogs deutlich abhoben. Das Goldene Netz war dieser Welt aufgezwungen worden, es war kein natürlicher Bestandteil von ihr.
Bidayn öffnete ihr Verborgenes Auge und studierte das Netz aus Kraftlinien, das sie umgab. Hell flackerten die Auren der Menschen in den Farben von Zorn und Angst. Sie griff nach der Magie der fremden Welt und unterwarf sie ihrem Willen, formte den Strom der Kräfte, bis die Bewegungen der Menschenkinder immer langsamer wurden und schließlich ganz erstarrten. Bidayn wusste, dass dies eine Täuschung war. Ihre Wahrnehmung hatte sich verändert. Nichts um sie wurde langsamer. Sie war schneller geworden – so viel schneller, als würde die Welt um sie herum stillstehen. Sie spürte, wie das magische Netz sich dagegen aufbäumte, in widernatürliche Bahnen gezwungen zu werden. Diesmal war sie vorbereitet. Sie nahm auch von der Kraft der Albenpfade, die sich in der Goldenen Pforte kreuzten. Daraus wob sie ein Netz, das sie und Lyvianne umgab und sie unberührbar für die Kräfte Nangogs machte.
Sie öffnete die Augen. Lyvianne stand vor ihr wie aus Stein gemeißelt. Bidayn hob ihre Meisterin auf und legte sie sich über die Schulter. Die Elfe war starr, keiner ihrer Muskeln bewegte sich. Ge schickt schlängelte sich Bidayn zwischen den fliehenden Menschen hindurch, die inmitten ihrer Bewegung erstarrt waren. Es war eine stille Welt, aus der alle Geräusche außer dem ihres Atems verschwunden waren. Es war, als sei sie in ein Bild hineingestiegen. All die gemalten Figuren waren dazu verdammt, in ihrer Pose zu
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