Drachenelfen
Wie konnte man nur vor Sonnenaufgang gute Laune haben?
Es war nasskalt. Der Rasen gab unter jedem ihrer Schritte ein leises, schmatzendes Geräusch von sich. Der Weg, auf dem sie liefen, würde völlig verschlammt sein, jeder Schritt die doppelte Kraft kosten. Nandalee schaffte es irgendwie, leichtfüÃig zu bleiben, ganz gleich, auf was für einem Untergrund sie lief. Bidayn hatte noch nicht ergründen können, ob das irgendein intuitiver Zauber war oder einfach nur Geschicklichkeit.
Gonvalon erwartete sie bereits, und Lyvianne stand an seiner Seite. Ihre Meisterin kam seit zwei Wochen mit zu den morgendlichen Läufen, und obwohl sie stets betonte, körperlich kaum mit den übrigen Drachenelfen mithalten zu können, absolvierte auch sie die zu laufende Strecke mit Leichtigkeit.
»Wo ist Nandalee?«, fragte Gonvalon beiläufig.
Bidayn zuckte mit den Schultern. »Weià nicht.« Sie ertappte sich bei dem gehässigen Gedanken, erleichtert darüber zu sein, dass ihre Freundin auch einmal verschlafen hatte. Wer wusste, wo
sie in der Nacht wieder gewesen war! Sie trieb sich zu viel in den nahen Wäldern herum! Bidayn wusste, dass sie immer noch BogenschieÃen übte, obwohl sie erst wenige Tage zuvor verkündet hatte, sie würde sich als Bildhauerin versuchen.
»Kannst du sie holen?« Gonvalon klang leicht verärgert.
Bidayn seufzte. Nandalee hatte die Angewohnheit, nackt zu schlafen. Also konnte sie Gonvalon schlecht darum bitten, selbst nachzusehen. Andererseits ⦠Wenn sie sich nicht zu sehr beeilte, würde es zu spät sein, um an diesem Morgen noch den vollen Lauf zu absolvieren. Mit einem freundlichen Lächeln machte sie sich auf den Weg und verfiel, sobald sie auÃer Sicht war, in einen gemütlichen Schlendergang. Ihre schlechte Laune war verflogen. Endlich ein Morgen, an dem sie nicht gequält wurde! Und Nandalee allein würde den Ãrger dafür abbekommen, dass der Lauf ausgefallen war.
Bidayn erklomm die Stufen zur oberen Etage und betrachtete einmal mehr die umfangreiche Schwertsammlung. Vor allem merkte sie sich, welche Waffen fehlten. Sieben der Meister waren unterwegs, und die meisten von ihnen hatte sie noch nie in der WeiÃen Halle gesehen. Was sie wohl gerade taten? Lyvianne hüllte sich über die Aufgaben der Drachenelfen in Schweigen, und auch Gonvalon hatte Nandalee nichts über die konkreten Ziele ihrer Ausbildung erzählt. Sie wussten nur, dass sie eines Tages die Feinde der Himmelsschlangen töten würden. Aber wer waren diese Feinde?
Bidayn schlenderte den Flur entlang. Sie dachte daran, wie oft Nandalee sie mit einem hämischen Spruch aus dem Bett geholt hatte. Was würde sie jetzt sagen? Guten Morgen, Schlafmütze , war viel zu harmlos. Vielleicht in düsterem Bass: Der Tag fängt schlecht für dich an, Bogenschützin!
Sie blickte auf die Schutzzeichen gegen Kobolde, die in Nandalees Türschwelle geschnitten waren, und musste grinsen. Sie mochte ihre rebellische Freundin. Nandalee tat die Dinge, über die andere nur zu flüstern wagten.
»Aufstehen!« Bidayn schob die Tür auf und blickte auf ein leeres Bett. Bogen und Köcher lehnten an der Wand. Nandalee war also nicht auf einem Jagdausflug verloren gegangen.
Sie ging zum Bett und streckte die Hand zwischen die Laken. Kalt. Also war sie auch nicht gerade erst aufgestanden. Piep hockte, den Kopf ins Gefieder gesteckt, im Fenster.
Ein ungutes Gefühl überkam Bidayn. Es passte so gar nicht zu Nandalee, am Morgen nicht zum Laufen zu erscheinen. Bidayn dachte an das geflüsterte Gespräch vor drei Tagen. Wie sie in ihrem Zimmer zusammengehockt hatten. Nandalee hatte gruselige Geschichten über Trolle erzählt. Dinge, die sie angeblich mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie hatte vor ihrer Freundin nicht zurückstecken wollen. Nicht wieder einmal. Und so hatte sie ihr von dem verborgenen Fenster in der Bibliothek berichtet. Von ihrem Treffen mit Lyvianne, und dass sie versuchte, das geheime Wort der Macht zu erlernen, das es einem erlaubte, durch das Fenster jeden beliebigen Ort betrachten zu können, an dem man selbst einmal gewesen war. Natürlich hatte sie Nandalee das Wort der Macht nicht verraten! War Nandalee etwa hinab in die Bibliothek gegangen? Bidayn blickte noch einmal auf den Bogen. Ihre Freundin nahm ihn auf ihre nächtlichen Streifzüge immer mit. Sie hatte die WeiÃe Halle also nicht
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