Drachenelfen
gelangen. Hundert Schritt maà die Strecke.
Der Winter war die Jahreszeit, die ihr am besten vertraut war. Es war die Jahreszeit, die in Carandamon am längsten währte. Aber dies hier war ein Winter ohne Härte. Es gab keine schneidenden Winde. Sonne brach sich funkelnd in den Eiszapfen, die von den Bäumen hingen. Viel zu viele Eiszapfen. Als habe jemand die Bäume mit Eis geschmückt. Nandalee lächelte über den absurden Gedanken.
»Fällt Euch etwas auf?« Der Erstgeschlüpfte hatte seine Elfengestalt angenommen. Er war wieder der Dunkle, so wie bei ihrer ersten Begegnung. Warum er seine Gestalt verändert hatte, hatte er nicht erklärt. Sie würde ihn auch nicht fragen. Ihn als einen Elfen neben sich zu haben war Nandalee angenehmer. So wirkte er weniger einschüchternd. Er war auf eine düstere Art attraktiv. Nur seine Augen hatten sich kaum verändert. Die geschlitzten Pupillen waren zwar verschwunden, doch das ungewöhnliche Blau war geblieben â die Farbe des Himmels an einem strahlenden Wintertag.
»Dies hier ist wie eine romantische Idee vom Winter. Kein wirklicher Winter.«
Der Dunkle nickte. »Das trifft es so ungefähr. Sie hat immer von Harmonie und von einer vollkommenen Welt geträumt. Die Wirklichkeit konnte sie nur schwer ertragen. Sie ist nur sehr selten von hier fortgegangen. Zwei Mal habe ich sie hier schon vergeblich gesucht. Ich hoffe, nun ist sie zurückgekehrt.«
»Wer?«
»Ich werde Euch keine Namen nennen. Ihr seid nur hier, um Euch umzusehen. Dieser Ort ist der Zufluchtsort einer Albe. Ihr werdet sie mögen, wenn wir ihr begegnen. Es ist unmöglich, sie nicht zu mögen, auch wenn sie ein wenig ⦠konfus ist.«
Nandalee gehorchte. Sie sah sich um. Was erwartete er, dass sie fand? Er war ihr so unendlich überlegen ⦠Sie verlieÃen den falschen Winter und gelangten in einen überschwänglichen Frühling. Die Bäume ertranken in ihrer Blütenpracht. Singvögel wetteiferten miteinander. Eine leichte Brise trug Blütenblätter und Wohlgerüche mit sich. Sie sah junge Hasen neben einem Fuchs spielen, der ihnen friedlich zusah. Kein Ast war hier gebrochen. Kein Blatt abgerissen. Alles wirkte vollkommen â und absolut falsch. Sollte so eine vollkommene Welt aussehen?, fragte sich Nandalee. Ihre Welt war es jedenfalls nicht. Sie blickte auf ihre verschorften, schmerzenden Fingerkuppen. Das war die Wirklichkeit! Sie schluckte hart und versuchte sich nicht vorzustellen, wie ihr Gesicht aussehen musste.
Immer wieder sah der Dunkle sie forschend an. Waren es ihre Wunden oder wollte er etwas von ihr? Was sollte sie hier? Sollte er es ihr sagen! Sie würde keine Fragen stellen, dachte Nandalee trotzig. Keine einzige Frage! Und wenn sie sich die Zunge abbeiÃen musste.
Mohnblüten säumten einen Wildwechsel. Sie entdeckte einen einzelnen FuÃabdruck in dunkler Erde. Er stammte vom Dunklen, wie es schien. Sie betrachtete die Fährte, blickte auf die Stiefel des Erstgeschlüpften.
»Sie ist nicht hier«, sagte der Drache endlich. »Ich würde sie spüren. Sie hat immer gute Laune.« Er senkte den Kopf.
Die Mohnblüten führten sie auf eine Lichtung. Sie waren im Sommer angelangt. Eine Spur von Gelb hatte sich unter das Grün des Grases gemischt. Auf Bäumen ganz in der Nähe hingen reife Früchte. Einer der Bäume trug Ãpfel und Birnen gleichzeitig. Nandalee ärgerten diese Spielereien. Es war unnötig! War es Langeweile gewesen? So vieles hätte man auf dieser Welt noch verbessern können. Sie dachte an die Winternächte, in denen ihr Magen ihr ein Schlaflied geknurrt hatte.
Am anderen Ende der Lichtung erstrahlte ein seltsames silbernes Licht. Nandalee hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen.
Ein wenig erinnerte es an die Tore, die sich bei den Albensternen öffneten. Doch dies hier war kein Lichtbogen. Es war eine schillernde Fläche. Ein wenig gröÃer als sie. Etwas Verlockendes haftete ihr an.
»Gebt acht, meine Holde. Wenn Ihr durch dieses Licht tretet, werdet Ihr dem Hort der Seelen entrissen. Ihr entschwindet an einen Ort, an den ich Euch nicht folgen kann.«
»Was ist das?« Kaum dass die Worte über ihre Lippen waren, ärgerte sie sich. Sie hatte sich doch Schweigen gelobt!
»Die Alben nennen es das Mondlicht. Es ist von Geheimnissen umwoben. Selbst für die Alben. Ich kann spüren, dass
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