Drachenelfen
an sie. Aber gelegentlich beobachteten sie sie aus den Augenwinkeln.
Nandalee vermutete, dass jeder von ihnen in Gedanken mit dem Drachen sprach. Ab und zu stand einer der Elfen auf, ging an dem Drachen vorbei und verschwand in einem hinteren Winkel der Höhle. Vielleicht konnte man dort irgendwo essen oder auch nur ungestört seine Notdurft verrichten. Sie blieben lange fort.
Die weite, offene Höhle, die ihre Unterkunft war, lag sehr hoch in den Bergen. Hier gab es keinen Schutz vor dem Wind und es war eisig kalt. Den neun Männern und acht Frauen schien die Kälte nichts auszumachen, aber Nandalee war inzwischen vollkommen ausgekühlt. Das Amulett, das sie von Sata erhalten und das sie gewärmt hatte, hatte der Drache ihr gleich am ersten Abend abgenommen. Nun waren drei Tage vergangen, ihr klapperten die Zähne, ihre Finger waren blau und die Nägel fast schwarz.
Nandalee kauerte am Boden und beobachtete den Drachen. Die meiste Zeit über hielt er seine durchdringenden blauen Augen geschlossen, aber gestern Nacht war er aufgeflogen, um sich unter der Höhlendecke im Felsgestein festzukrallen. Die weiten Schwingen wie eine Decke um den Leib gefaltet, hatte er dort gehangen, als sei er eine groÃe Fledermaus. Wäre ihr nicht so kalt gewesen, sie hätte über ihn gelacht. Sie wusste nicht viel über Drachen, aber es erschien ihr falsch, dass sie wie Fledermäuse schliefen. Je länger sie ihn beobachtete, desto mehr kam sie zu der Ãberzeugung, dass der weiÃe Drache verrückt war. In drei Tagen hatte er ihr nichts beigebracht! Und das sollte ein Lehrmeister sein! Jetzt lag er wieder inmitten der Höhle, auf dem mit Spiralmustern geschmückten Felsboden. Während er geschlafen hatte, war es zu dunkel gewesen, um zu erkennen, was sich hinter dem Platz verbarg, an dem er sonst kauerte, und Nandalee war zu stolz
gewesen, um nachzusehen. Nein, das war nicht die ganze Wahrheit. Eigentlich war sie auch zu schwach.
Würdet Ihr lieber sterben, als mich um etwas zu bitten?
Der Drache hielt die Lider geschlossen.
Ihr seid sonderbar, Dame Nandalee. Ich kann in Gedanken mit Euch sprechen, aber ich kann nicht in ihnen lesen. Ihr hört mich doch, nicht wahr? Es ist allein Eure Sturheit, die Euch nicht antworten lässt. Oder? Seit Gonvalon Euch hierhergebracht hat, verschlieÃt Ihr Euch. Das ist eine neue Erfahrung, genauso wie die Tatsache, dass ich nicht in Euren Gedanken lesen kann. Erstaunlich. Ihr seid wahrlich bemerkenswert stur, Dame Nandalee. Was kostet es Euch, mich um Hilfe zu bitten? Ist es Euch eine derart groÃe Last, um etwas zu bitten? Ist Euer Stolz es wert, für ihn zu sterben?
Wie wäre es, wenn Ihr nickt oder den Kopf schüttelt? Dann hättet Ihr immer noch kein Wort gesprochen. Falls es das ist, was Euch am Herzen liegt.
Nandalee schluckte. Sie hatte sich noch immer nicht an die Gefühle gewöhnt, die sie durchfuhren, wenn der Drache mit ihr sprach. Sie hasste es, dass er sie stets mit Dame Nandalee ansprach oder â noch schlimmer â mit »mein Kind«. Sie war weder Dame noch Kind und hatte auch nicht die geringste Lust, so benannt zu werden. Und dann immer diese seltsame Sprache! War es denn so schwierig, einfach kurz und knapp zu sagen, worum es ging? Klare Anweisungen, knappe Befehle, manchmal ein wenig Prahlerei â das war ihre Sprache, die Sprache der Jäger. Nicht diese Menge nutzloser Wortgebilde, von denen jedes einzelne sie zudem von innen in Flammen zu setzen schien! Aber wann immer der Drache zu ihr sprach, vergaà sie für einen Augenblick ihren Zorn. Die Gefühle, die seine Stimme in ihr auslösten, brannten alles andere nieder. Sie waren die einzige Illusion von Wärme in dieser Eiseskälte, an der sie langsam zugrunde ging. Dennoch schwieg sie. Nicht allein aus Trotz, sondern auch, weil sie ihre Sippe verloren hatte, den Mittelpunkt ihres Lebens. Weil sie einem Alben, dem Sänger, nahe gekommen war und dieser sie zurückgewiesen
hatte. Weil sie nun hier halb erfroren in der Höhle eines Drachen kauerte und ihr Leben sich so schnell und so grundlegend verändert hatte, dass sie völlig orientierungslos war. Was sie jetzt wollte? Sie wusste es nicht mehr. Sie hatte nichts mehr, wofür sie noch leben sollte, und niemanden, der um sie trauern würde, wenn sie starb. Um was also hätte sie den Drachen bitten sollen? Vielleicht, so überlegte sie, war es das Beste, ihre Seele
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