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Drachenelfen

Drachenelfen

Titel: Drachenelfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Hennen
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Die Stufen waren mit bunten Mustern bemalt, doch an vielen Stellen
schimmerte graues Holz durch den Lack. Eine fingerdicke Wurzel folgte dem Handlauf des Geländers. Er hatte das Gefühl, dass der Schiffsbaum diesen Himmelspalast stärker durchdrungen hatte, als es auf seinem Palastschiff der Fall war. Dort gab es nur einige Deckenbalken, die deutlich sichtbar vom Wurzelwerk des Schiffsbaums gezeichnet waren.
    Instinktiv scheute Artax davor zurück, den Handlauf zu berühren, während er der Treppe hinab zu den Toten folgte. Es waren drei Männer und eine junge Frau, alle vier gekleidet wie Wolkenschiffer und mit weit aufgerissenen Mündern und Augen. Die Augäpfel waren leicht hervorgetreten, und die Frau hatte die Hände um ihren Hals gelegt, als habe sie versucht, sich gegen einen Würgegriff zu wehren.
    Ein wenig tiefer am weiten Treppenrund entdeckte Artax ein auffällig geschmücktes Portal, das sich deutlich von allen anderen Toren im Treppenturm unterschied. In den Rahmen aus rötlichem Holz war eine stilisierte springende Raubkatze geschnitten. Auch hier hatte Wurzelwerk das Holz durchdrungen. Mehrere Reihen Perlschnüre hintereinander versperrten den Blick und bildeten ein buntes Durcheinander aus Walbein, Jade, Koralle und Onyx. Kleine Figuren waren in manche der Perlen geschnitzt. Springende Pferde, Bisons, menschliche Gesichter. Der Geruch von Räucherwerk drang durch den Vorhang in den Treppenturm.
    Vorsichtig trat Artax zwischen den Schnüren hindurch, die mit aufdringlichem Klicken seine Ankunft verkündeten, und sah hinab auf einen kreisrunden Saal, der sich in Terrassen um einen zentralen Kultplatz gliederte. Vom Ort, an dem er stand, lief eine Treppe geradewegs auf den mit prächtigen kupfernen Räucherschalen umstandenen Platz der Priesterschaft zu. Überall auf den Terrassen lagen Menschen. Übereinander. Nebeneinander. Ineinander verschlungen. Ein Flickenteppich von Leibern. Mütter, die ihre Kinder an sich pressten. Väter, die ihre erwachsenen Söhne bei der Hand hielten. Einfache Wolkenschiffer, Seite an Seite mit Würdenträgern in golddurchwirkten Wickelröcken.

    Artax stockte der Atem – all diese Menschen schienen etwa zur selben Zeit gestorben zu sein. Er sah einen Mann, der sich die Kehle durchgeschnitten hatte. Doch bei den meisten war keinerlei Wunde zu entdecken. Ihre Münder klafften offen. Die Augen waren hervorgequollen und im Todeskampf verdreht. Hundertfach. Nein, mehr noch. Artax schätzte, dass über zweitausend Ischkuzaia in diesem Kuppelsaal lagen.
    Die Decke des weiten Saals war vollständig von dichtem Wurzelwerk überzogen. Viele dünne Wurzeln hingen wie Girlanden von der hohen Kuppel hinab. Sie endeten in feinen, weißen Wurzelhärchen, die an einigen Stellen bis zu den Toten reichten, tasteten nach Gesichtern, drangen in Nasen ein und drängten in den schmalen Spalt zwischen Auge und Lid. Einige der feinen Wurzelhärchen bewegten sich, obwohl kein Lufthauch durch die Totenhalle ging. Artax schien es, er könne sie wachsen sehen. Nährte sich der Schiffsbaum von den Leichen? Hatte er etwas mit dem zu tun, was hier geschehen war? Hart schluckte er gegen die aufsteigende Übelkeit an. Die feinen Wurzeln, die nach den Toten griffen und in sie eindrangen, setzten ihm noch mehr zu als der Anblick der Leichen selbst. Er hatte noch nie so viele Tote gesehen. Hatte der Baum sie getötet? Nährte er sich von ihnen? Oder war da noch etwas anderes an Bord? Er brauchte eine Waffe. Den Toten hatten ihre Waffen zwar offensichtlich nicht viel genutzt, aber er wollte hier nicht mit bloßen Händen stehen, auch wenn er sich lediglich die Illusion verschaffte, sich wehren zu können.
    Artax holte tief Luft, stieg zwei Stufen hinab und griff nach dem Schwert eines toten Kriegers — eine schmucklose, kopflastige Waffe mit breiter Klinge. Der Schweiß seines Besitzers hatte den lederumwickelten Griff dunkel gefärbt. Als Artax sich aufrichtete, berührte ihn einer der Wurzelstränge. Mit einem Schrei zuckte er zurück, stolperte über einen Toten und fiel rücklings zu Boden. Die Wurzel pendelte nun dicht über seinem Gesicht. Neue, feine weiße Haare trieben aus dem Strang und wurden binnen weniger Herzschläge so lang wie Finger. Sie wuchsen ihm
entgegen! Wie eine Maus die Schlange starrte er die Wurzel an. Schon strich sie ihm über die Wange. Ein zweiter Trieb drang

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