Drachenelfen
Hand gefallen. Er hatte kurz geschorenes Haar und ein rundes Gesicht. Zwei Schneidezähne fehlten in dem weit klaffenden Mund. Der Kleine war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Die hellbraunen Augen blickten auf das bärtige Antlitz des Mannes, der ihn in seinen Armen hielt. Artax hatte das Gefühl, dass der Junge zu seinen FüÃen bis zuletzt daran geglaubt hatte, sein Vater könne ihn beschützen.
Jetzt ist nicht die Zeit für sentimentale Grübeleien, du Tropf! Nimm die Beine in die Hand und bring uns hier raus. Hurtig, Kerl!
Artax seufzte. Er wusste genau, warum er Aaron nicht mochte. Sentimentale Grübeleien waren das, was den Menschen vom Tier unterschied. Ein Schwan mochte den Mörder seiner Gefährtin an Ort und Stelle richten, wenn er seiner habhaft wurde â aber er würde nicht nach ihm suchen. Artax aber war ein Mensch und er schwor sich, den Mörder zu finden. Was für eine Kreatur mochte das sein, die diesen hundertfachen Tod verursacht, die Frauen und Kinder gemordet hatte? Und was war ein solches Massaker wert? Oder war es aus reiner Willkür begangen worden?
Vorsichtig stieg Artax zwischen den Leichen hindurch zurück zum Portal. Stets hielt er dabei ein Auge auf die Wurzeln an der Decke gerichtet. Sie wiegten sich. Und das, obwohl das Schiff völlig bewegungslos lag. Fast schien es, als führten sie für die Toten einen Tanz auf, um ihnen die letzte Ehre zu erweisen.
Kannst du dir deine verrückten Bauerngedanken aufheben, bis du wieder faul in unserem Harem liegst und dich deinen Tagträumen hingibst? Jetzt benutze gefälligst deine Beine und bring uns fort von diesem Seelentrinkerbaum!
Je länger Artax darüber nachdachte und in sich hineinhorchte,
desto sicherer war er sich, dass Aaron irrte. Trotzdem â hier unten konnte er niemandem mehr helfen. Tief in Gedanken erklomm er die weite Spirale des Treppenturms und erreichte schlieÃlich nahe des Schiffsbaums das Oberdeck. Der Boden hier war dicht bedeckt mit den Kadavern von Vögeln und vereinzelten Affen. Artax blickte zu den weit ausladenden Ãsten hinauf, doch der Wolkendunst erlaubte es ihm kaum, weiter als bis zu den niedrigsten Ãsten zu sehen. Auch sie waren mit Stoffstreifen geschmückt, so wie der dicke Wurzelstrunk unten im Tempel. Auf jeden einzelnen der Streifen waren mit dunkler Tinte Buchstaben und Bannzeichen gemalt. Pferdeschädel ragten auf Pfählen aus dem dunklen Erdreich, in das der Baum gebettet war.
Ein leiser Wind lieà die Blätter flüstern.
Hier an Deck fiel Artax das Atmen ein wenig leichter. Er schob mit dem Fuà Vogelkadaver zur Seite und überlegte, ob Abir Ataš, der Hohepriester seines Himmelspalastes, eine Erklärung dafür haben mochte, was hier vorgefallen war. Oder der Löwenhäuptige. Aber würde er das Geheimnis preisgeben?
Plötzlich hielt Artax inne. Da war ein Geräusch, das nicht zum Blätterrascheln passte. Er trat ein Stück zurück, sodass er den glaskuppelgekrönten Ausgang des Treppenturms im Rücken hatte, hielt den Atem an und lauschte. Gab es etwa doch Ãberlebende? War der geheimnisvolle Feind noch an Bord? â Da war es wieder. Ein leises Tuscheln! Und Schritte, die klangen, als ginge dort jemand, der versuchte, jedes Geräusch zu vermeiden. Der dichte Dunst verfremdete und dämpfte jeden Laut. Artax war sich nicht sicher, ob die Schritte sich in seine Richtung bewegten oder von ihm fort. Fast sehnte er sich herbei, dass die Bedrohung endlich Gestalt annehmen möge, dass etwas aus Fleisch und Blut vor ihm stand, das man bekämpfen konnte. Seine Hand schloss sich fester um den Schwertgriff. Er wusste aus einigen Ãbungskämpfen, wie gut er war. Ja, Aaron war nicht nur Lüstling gewesen, er hatte sich auch täglich im Umgang mit den Waffen geübt, mit Schwert, Bogen und Speer. Und er war gut gewesen.
Artax verlieà seine Deckung. Die Leiber der toten Vögel dämpften seine Schritte. Sie fühlten sich erstaunlich fest unter seinen FüÃen an. Wie Klumpen aus getrocknetem Lehm. Das Knacken ihrer zierlichen Knochen begleitete ihn. Wieder verharrte er, lauschte, war sich nicht ganz sicher, aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Er schlich an einem Zelt vorbei. Eine Planke knarrte. Sehr nah! Artax hob sein Schwert. Da war ein Schatten im treibenden Wolkendunst! Der Unsterbliche machte einen Satz nach vorn. Seine Klinge stieà hinab.
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