DRACHENERDE - Die Trilogie
"Dann wird er wieder zur Vernunft kommen.“
„Hat er recht?“, wollte Rajin wissen, und der Tonfall, in dem er die Frage stellte, schien den Weisen zu überraschen.
„Du kennst mich!", entgegnete Liisho hart. "Du kennst mich, seit deine Seele erwachte! Ich war in allen wichtigen Augenblicken deines Lebens bei dir! Glaubst du wirklich, ich könnte dir irgendetwas Schlechtes wollen oder dein Schicksal wäre mir gleichgültig gewesen?“
„Du brauchst mich.“
„Die Bewohner Drachenias brauchen dich! Die Menschen aller fünf Reiche brauchen dich! Die ganze Welt braucht dich! Reicht das nicht, um sich bedeutend genug zu fühlen? Ich verfolge keine eigenen Interessen, Rajin. Ich diene nur dem Gleichgewicht und der Ordnung der Welt – einer Ordnung, die ich zwar trotz all meiner Studien gerade einmal in Ansätzen zu verstehen glaube, von der ich aber weiß, wie sehr sie durch die Kräfte des Chaos bedroht ist. Und nun will ich dir sagen, wie es in jener Nacht wirklich war. Und wenn du willst, kann ich es dir auch zeigen."
"Du willst es mir zeigen?", fragte Rajin überrascht.
"Indem ich dir einen Traum sende“, erklärte Liisho.
„Wer garantiert mir, dass der Traum wahr ist?", fragte Rajin misstrauisch. "Nein, das hätte keinen Sinn. Du selbst hast gesagt, dass es keine leichtere Zauberei gäbe, als Menschen sehen zu lassen, was sie sehen wollen.“
„Da hast du recht, Rajin", stimmte Liisho ihm zu. "Davor gibt es keinen Schutz, nie und für niemanden. Nicht für mich und nicht für die Götter – und auch nicht für deinen Freund Bratlor, der seiner Vernunft und der Logik der Gedanken vertraut, die sich in Wahrheit doch genauso täuschen lassen wie der einfältigste Bauer in seinem Aberglaube.“
„Dann erzähl mir von jener Nacht", erklärte sich Rajin einverstanden. "Ich werde entscheiden, was ich dir glaube.“
Liisho atmete auf. Er nickte leicht. „Das ist klug, Rajin. Vertrau auf dich selbst. Bisher konnte ich dir einflüstern, was richtig ist, aber das geht jetzt nicht mehr. Du musst deine eigene innere Stimme finden und ihr lauschen. Und ich kann nur hoffen, dass sie dich in die richtige Richtung führt. Dein Gefährte Bratlor glaubt, dass hier ein Spiel im Gang ist, bei dem Figuren verschoben werden wie beim Drachenreiter-Schach. Das ist wahr! Allerdings solltest du erkennen, dass du keine dieser Figuren bist, Rajin. Du bist der Spieler!“
Liisho lehnte sich mit dem Rücken gegen die Höhlenwand, dann erzählte er Rajin von jener Nacht, in der er sich mit seinem Drachen Ayyaam dem Ort Winterborg genähert hatte: „Die Nächte über Winterland mögen oft klar und kalt sein. Aber diese war grau und wolkenverhangen. Nur hin und wieder schimmerte das besonders intensive Licht des grünen Jademondes durch die Wolken. Ayyaam war nicht mal ein Schatten für jenen, der in dieser Nacht hoch zum Himmel geblickt hätte.
Ich hatte zuvor die Stadt ausgekundschaftet, Rajin. Den Ort – aber auch die Menschen. Ich wusste, dass es dir im Hause von Wulfgar Wulfgarssohn gut gehen würde. Aber mir war natürlich auch klar, dass dein Auffinden so unspektakulär wie möglich geschehen musste. Ein Kind mit Mandelaugen im Seereich war schon außergewöhnlich genug, und in der Tat hat es ja alle möglichen Spekulationen darüber gegeben, ob du nicht ein Fluchbringer wärst. Aber wenn jemand Ayyaam gesehen hätte, wärst du wahrscheinlich sofort ins Meer geworfen worden.
Ayyaam war von dem Flug über das kalte Land ziemlich erlahmt und konnte sich kam noch bewegen. Ich ging mit ihm jenseits der Berge runter, die sich nordwestlich von Winterborg befinden. Die letzten Meilen legte ich zu Fuß zurück. Ein Schneesturm wehte über das Land; es war eine Nacht, in der man den ärgsten Feind nicht vor die Tür jagen würde. Mit einem Zauber sandte ich Wulfgar Wulfgarssohn einen Traum, der ihn erwachen und dich finden ließ.
Du magst diese Geschichte nun glauben oder nicht – es war mir nie gleichgültig, was mit dir geschieht. Schon deshalb nicht, weil ich mich deinem Vater sehr verbunden fühlte. Kaiser Kojan war ein großer Herrscher. Einer, dem ich es zugetraut hätte, auch dem erwachenden Urdrachen Yyuum zu begegnen und das Gleichgewicht der fünf Reiche aufrechtzuerhalten. Er hatte es nicht verdient, so grausam dahingemetzelt zu werden. Und dasselbe gilt natürlich für deine Mutter, die Kaiserin, von der immer noch in den Straßen Drakors nur Gutes erzählt wird.“
Rajin sah Liisho eine Weile prüfend an.
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