DRACHENERDE - Die Trilogie
Durch eine glückliche Fügung der Götter kann ich dich im Traum sehen – aber du antwortest nicht …“
Bedeutet dir die Frau nichts mehr, die deinen Sohn unter dem Herzen trägt?, durchzuckte es Rajins Gedanken. Aber er spürte deutlich, dass dies nicht sein eigener Gedanke war, sondern etwas, das sich ihm aufdrängte und in irgendeiner Weise mit der Kraft zusammenhing, deren Anwesenheit er gespürt hatte.
Eine wahre Flut von Gedanken brach über sein Inneres herein und stürzte Rajins Seele in ein Chaos. Die Zeit schien still zu stehen. Wie konnte diese sich ihm aufdrängende Macht davon wissen, dass Nya ein Kind erwartete? Wie konnte diese Macht über etwas Gewissheit haben, dessen sich nicht einmal Nya schon wirklich sicher gewesen war, als sie zuletzt mit Rajin gesprochen hatte?
Und wie konnte dieser fremde Geist behaupten, dass ihr Kind ein Sohn war?
Hast du keine Worte mehr für sie? Was lässt dich zögern?
Auf einmal ragten ihre Arme in einer flehentlichen Geste aus dem Bild – so verkleinert wie die Gliedmaßen einer jener Skulpturen, die seemannische Schnitzmeister aus Seemammutzähnen herauszuarbeiten vermochten …
Da stieß Rajin hervor. „Nya! Wie kann ich dir helfen?“
Er versuchte instinktiv, ihre herausgestreckten Arme zu berühren, aber sie glitten wie geisterhafte Erscheinungen durch seine Hand hindurch, so als hätten sie keinerlei Substanz. Ein Geisterbild. Mehr war es nicht, was der Absender des Pergaments ihm da vorgaukelte.
„Nya!“
Ein Gelächter folgte und ein Schrei. Nyas Schrei. Sie drehte sich herum, und dann geriet hinter ihr eine Gestalt ins Blickfeld, die sich offenbar bisher jenseits des Bildrands befunden hatte. Anhand der äußerst buschigen und nach oben gebogenen Augenbrauen sowie der sehr charakteristischen Stirnfalte in Form einer Pfeilspitze war er sofort als Angehöriger des Magiervolkes erkennbar.
„Du hättest ihr nicht antworten dürfen, Rajin Ko Barajan!“, höhnte der Magier, während sich Nya verzweifelt aus dem Bild herausreckte, ohne jedoch daraus entkommen zu können. „Dein Instinkt für alles Magische scheint ungewöhnlich stark – aber du stammst ja schließlich auch aus der Linie Barajans, der wiederum dem Magiervolk entstammte!“
Der Magier schnipste mit den Fingern, und Nya verblasste. „Nein!“, schrie sie noch voller Verzweiflung, als sie bemerkte, was mit ihr geschah. Sie löste sich einfach auf. Ihre Formen zerflossen, und sie schien wie eine Figur aus heiß gewordenem Wachs zu zerfließen. Wenig später war sie eins geworden mit den konturlosen Gebilden, die im Hintergrund waberten.
Der Magier lachte. „Du hast ihr geantwortet und dadurch die Magie des verlorenen Lebens ausgelöst. Um ein Haar hättest du die Falle bemerkt – aber du bist ein Mensch und damit ein Sklave dessen, was du liebst!“ Sein Gelächter dröhnte auf eine fast ebenso unangenehme Weise in Rajins Kopf wider, wie es bei dem des Vermummten der Fall gewesen war.
Auch das Bild des Magiers verblasste. Schließlich war nicht mehr zu sehen als ein Konglomerat von Farbklecksen.
Doch noch einmal dröhnte die Gedankenstimme des Magiers in Rajins Kopf: So empfange den Tod durch die Magie des verlorenen Lebens!
Die Zweikopfkrähe flatterte krächzend vom Boden auf, wo sie geduldig gewartet hatte, was der herkömmlichen Erziehung dieser Boten entsprach, denn normalerweise steckte man ihnen einen Antwortbrief in die Schatulle, bevor sie wieder davonflogen.
Ungefähr bis auf die Länge des Anderthalbhänders, den Rajin auf dem Rücken trug, war das Tier aufgestiegen, als etwas urplötzlich aus dem vereisten Boden hervorbrach. Im Licht der fünf Monde wirkte es zunächst wie der Tentakel eines Riesenkraken, die in großer Meerestiefe lebten und manchmal tot an die Küste gespült wurden oder deren Überreste man hin und wieder in den Mägen von Seemammuts fand. Der schlangenartige Arm wickelte sich blitzschnell um den Körper der Zweikopfkrähe und zerquetschte sie, dass das Blut aus ihr hervorschoss wie Saft aus einer überreifen Frucht, die man zertrat.
Im nächsten Augenblick wurde Rajins rechtes Fußgelenk von einem aus dem Boden hervorbrechenden Schlangenarm umfasst.
8. Kapitel:
Die Magie des verlorenen Lebens
Rajin zuckte zurück, stolperte nach hinten und fiel zu Boden. Das Pergament hatte sich von selbst zusammengerollt, und er hielt es krampfhaft in der Linken, obwohl es offensichtlich eng mit der Magie in
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