DRACHENERDE - Die Trilogie
Seine einhändig abzuschießende Armbrust war am Sattel festgemacht. Rajin konnte anhand der Stellung des Spannhebels sehen, dass sie nicht mehr geladen war.
„Jetzt einen Bogen, dann könnte ich dieses neuländische Stinktier aus dem Sattel holen!“, schimpfte Bratlor und bediente sich dabei der drachenischen Sprache.
Liisho veranlasste seinen Drachen, noch etwas weiter zurückzuweichen, um dem Drachenreiter-Samurai klarzumachen, dass man ihm keine Falle stellen wollte.
Schließlich flog der Samurai auf seinem Drachenreittier durch das Tor zurück, und das im letztmöglichen Augenblick, denn nur einen Herzschlag, nachdem er es passierte, flackerte der Lichtbogen auf, und das Bild der nächtlichen, vom Licht der Monde beschienenen Ödnis der kalten Senke verschwamm. Bläulicher Nebel wallte auf. Innerhalb weniger Sekunden war nichts mehr zu sehen. Dann verblasste das Tor, der Lichtbogen erlosch ebenso wie das Leuchten der Lichtquelle auf der Turmspitze; da war nur noch ein vom Meer umspülter schwarzer Felsen und ein aus dem Wasser ragender Turm, der Teil einer untergegangenen Ruine sein musste.
„Du hättest ihn töten können“, sagte Bratlor zu Liisho, und in seinem Tonfall lag ganz deutlich ein Vorwurf.
„Gewiss“, stimmte Liisho zu.
„Warum hast du ihn entkommen lassen?“, fragte Bratlor empört. „Gnade mit seinem Feind zu üben kann ein Akt der Weisheit sein, aber in diesem Fall erscheint es mir eher wie eine vollendete Torheit.“
„So? Und du Barbar glaubst das beurteilen zu können?“, fragte Liisho und schaute Bratlor über die Schulter hinweg an. „Wenn du so lange gelebt hättest wie ich und so viel gesehen hättest … Ach, es ist sinnlos, diese Dinge einem Einfältigen erklären zu wollen! Selbst ein Mann von so edlem Geblüt wie unser gemeinsamer Freund Rajin hat schon Schwierigkeiten, die Zusammenhänge richtig zu begreifen, wie ich leider feststellen musste.“
„Die Kunst der Herablassung scheint in Drachenia der beliebteste Sport unter den Weisen zu sein“, spottete Bratlor. „Bei uns ist es die Bescheidenheit – und trotzdem nennst du uns Barbaren!“
„Ich würde auch gern wissen, warum du diesen Drachenreiter-Samurai hast entkommen lassen“, mischte sich Rajin ein. „Er ist doch ein Verräter! Seine Ahnen dienten meinem Vater und dessen Vater und schworen einer langen Reihe von drachenischen Kaisern die Treue. Er aber kämpft und mordet für einen Thronräuber!“
„Das ist richtig“, stellte Liisho fest.
„Also verdiente er doch den Tod“, war Rajin überzeugt. „Außerdem werden wir ihm und seinem Drachen doch wahrscheinlich schon bald erneut im Kampf gegenüberstehen. Entweder dann, wenn er und seinesgleichen erneut versuchen, mich zu töten, oder wenn der Tag kommt, da wir deinen Plan in die Tat umsetzen und tatsächlich die Herrschaft des Usurpators beenden.“
„Auch das ist richtig“, gestand Liisho ein. „Aber wenn wir dem wahren Kaiser zurück auf den Drachenthron verhelfen wollen, werden wir viele Verbündete brauchen. Auch solche, die zwischenzeitlich Katagi gedient haben, weil sie dachten, dies wäre die einzige Möglichkeit, ihren Treueeid zu erfüllen, oder weil sie glaubten, keine Wahl zu haben, da Katagi durch den Besitz der Drachenringe letztlich als Einziger die Macht hat, zu verhindern, dass aus den zahmen Reitdrachen wilde, unkontrollierbare Bestien werden, die zumindest ein gewöhnlicher Drachenreiter-Samurai wohl kaum bändigen könnte. Es gibt viele Gründe, aus denen sie Katagi folgen, und nicht alle sind rein egoistischer Natur, aber so mancher unter ihnen wird seinen Fehler vielleicht erkennen und auf unsere Seite wechseln. Dieser Mann wird sich womöglich ausgewählten Freunden anvertrauen und ihnen erzählen, was ihm widerfahren ist. Und das wird wie ein langsam wirkendes Gift in den Reihen der Drachenreiter sein.“
Liisho lenkte Ayyaam auf die Ruinenstadt zu. Offenbar beabsichtigte er auf einem Plateau zu landen, das sich auf einem kanzelähnlichen Vorsprung befand.
„Das bedeutet, du rechnest mit einer langen Zeit des Kampfes“, wandte sich Rajin noch einmal an seinen Mentor.
„Alle wirklich großen Dinge brauchen Zeit, Rajin. Das wird in diesem Fall nicht anders sein, fürchte ich.“
Der Drache ging auf dem Plateau nieder, das zur Küste hin offen war und auf der Landseite von einer Reihe halbverfallener Gebäude umgebe wurde.
Als Rajin vom Rücken des Drachen stieg, sah er die Wunden, die der Koloss davongetragen
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