DRACHENERDE - Die Trilogie
des Bleichen Einsiedlers schien ebenso stark ausgeprägt zu sein wie sein Gehör und seine Augen. Allerdings beklagte er sich nicht, sondern ertrug es in aller Stille.
Sie gelangten dorthin, wo sich eigentlich die Stadt Para hätte befinden müssen. Am Ufer des Pa-Flusses gelegen, war sie ein Zentrum des Handels gewesen und ihre dem Unsichtbaren Gott geweihte Kathedrale weit über die Grenzen der Provinz Ostmeerland bekannt. Die drei Türme dieser Kathedrale, die sich jeweils wieder dreifach aufgabelten, hatten als Wahrzeichen der Stadt gegolten, und die Leuchtfeuer, die in der Nacht auf diesen Türmen gebrannt hatten, waren für viele Generationen von Drachenreitern ein wichtiger Orientierungspunkt gewesen.
Nichts war von alledem geblieben. Von der Kathedrale, diesem Sinnbild drachenischer Baukunst und eines festen Glaubens an einen Gott, der seine unsichtbare Hand schützend über die Welt hielt, standen nicht einmal mehr die Fundamente.
„Selbst die Flutmauern, die die Stadt vor dem Hochwasser des Pa schützen sollten, wurden weggerissen“, stellte Branagorn fest. „In wenigen Tagen werden die Wassermassen von der Quelle am Dach der Welt erneut bis hierher geflossen sein und sich ihr altes Flussbett zurückerobern. Mehr noch: Ihre Flut wird all das, was von Pa noch geblieben ist, fort in Richtung Ozean spülen.“
Rajin, der Ghuurrhaan noch eine tiefere Runde über die Ruinen fliegen ließ, sagte zu Branagorn: „Ihr scheint gut vertraut mit den Verhältnissen, die in Para herrschten, bevor der Schneemond diesen Ort vernichtete.“
„Es gab eine alte Bibliothek hier, die es durchaus wert war, ein oder zwei Jahrzehnte hier zu leben“, antwortete Branagorn. „Sie enthielt auch eine Schriftrolle, bei der es sich angeblich um ein Original von der Hand des Propheten Masoo handelte. Da ich aber die Veränderungen der Schrift Drachenias über einen beträchtlichen Zeitraum selbst miterlebt habe, fiel mir sofort auf, dass dieses Pergament nicht älter als ein oder zwei Generationen sein konnte. Offensichtlich war man einem Betrüger aufgesessen.“ Branagorn zuckte mit den Schultern. „Nachdem ich zuerst den Bibliotheksleiter und anschließend den Stadtfürsten darauf aufmerksam machte, verwies man mich des Ortes. Erst dachte ich, es hätte mit der Unzulänglichkeit des Gesichtssinnes zu tun, der ja leider für sämtliche Bewohner dieser Welt kennzeichnend ist. Dann allerdings begriff ich, dass sie einfach nicht sehen wollten, welchem Betrug sie aufgesessen waren.“
„Ein Stadtfürst muss sein Gesicht wahren“, sagte Ganjon. „Dafür habe ich bis zu einem gewissen Grad Verständnis.“
Doch Branagorn schüttelte den Kopf. „Es ging dabei um nichts anderes als um Geld. Die Schrift des Masoo war so etwas wie eine Reliquie geworden, die viele Besucher nach Para lockte, was dem Handel belebte und der Stadt Unmengen von klingenden Münzen eintrug. Davon abgesehen wurde von jedem, der sie zu sehen wünschte, ein stattlicher Betrag gefordert, den ich mir nur deshalb leisten konnte, weil ich länger sparen konnte, als dies einem Menschen möglich ist.“ Branagorn seufzte schwer. „Nun ja, jedenfalls belegte man mich mit einem Verbot, Para je wieder aufzusuchen, was ich sehr bedauert habe.“ Er ließ den Blick über die Ruinen schweifen, die der Drache nun recht niedrig überflog. „Ich hätte nicht in meinen schlimmsten Albträumen geglaubt, eines Tages unter solchen Umständen wieder hierher zu kommen ...“
Wenn es Überlebende gab, so hatten sie die Stadt verlassen. Dass sie sich in die Ödnis aufgemacht hatten, in Richtung Westen nach Seng-Pa, jener Ebene, deren Grenze der mitteldrachenische Bergrücken bildete, wo die Flüsse Seng und Pa entsprangen, war recht unwahrscheinlich, zumal an der Vegetation deutlich zu sehen war, dass der Mondsturm genau dort seinen weiteren Verlauf genommen hatte. Rajin vermutete, dass die Bürger der Stadt, sofern überhaupt welche diese Katastrophe überlebt hatten, nach Nangkor an der ostmeerländischen Küste zum östlichen Ozean gezogen waren. Je nachdem, wie breit die Schneise der Zerstörung war, die der Mond mit seinen ungeheuren Kräften geschlagen hatte, war Nangkor vielleicht verschont geblieben. Zumindest bisher, den niemand konnte vorhersagen, wo der den Mächten des Chaos ergebene Schneemond in den nächsten Nächten seine schlingernde Bahn ziehen würde.
Schließlich erreichten sie Landstriche, die von der zerstörerischen Kraft des Mondes deutlich weniger
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