DRACHENERDE - Die Trilogie
verständliches Wort.
„Nein!“, schrie er.
„Hass und Rache brauchen eine Form, Wulfgarskint!“, belehrte ihn der Herr des Augenmonds. „Und sie brauchen die rohe Kraft einer Kreatur wie der Riesenschneeratte, die aus purem Instinkt heraus handelt, so wie ihn die Götter ihr eingepflanzt haben.“
Doch die Worte des Todverkünders vermochten die Verzweiflung der ungeschlachten Kreatur, zu der Wulfgarskint geworden war, nicht zu dämpfen. Sie sank auf die Knie, die Pranken griffen in den Boden, wirbelten Erdreich empor. Dabei stieß das Wesen Schreie voller Wut und Schmerz aus.
„Du denkst, dass ich dich betrogen habe?“, fragte Ogjyr und lachte schallend. „Das ist gut, Wulfgarskint. Denn das wird deinen Hass vergrößern und es dir erleichtern, deiner neuen Bestimmung zu folgen. Es wird dir helfen, die Kraft aufzubringen, die du brauchst. Wenn aus so vielen verschiedenen Quellen die Ströme des Hasses entspringen, werden sie sich irgendwann vereinen und zu einem mächtigen Ozean werden. Einem Ozean aus Blut!“
Die Kreatur sprang auf und wollte sich auf den Herrn des Augenmonds stürzen. Doch der wurde transparent, löste sich auf, und der brüllende Rattenmann griff durch ihn hindurch und taumelte wie ein torkelnder Narr zu Boden.
Wie aus dem Nichts erschien Ogjyr auf einmal hinter ihm. „Auf diese Weise kann man mich nicht fassen, und eigentlich müsstest du das wissen, Wulfgarskint. Denn auch wenn mich die Seelen der Toten für gewöhnlich meiden, so genieße ich unter den Legendensänger überall im Seereich doch eine gewisse Achtung, wie ich ohne falschen Stolz behaupten darf.“
Der Rattenmann richtete sich wieder auf. Er stöhnte, und dieser Laut klang beinahe menschlich.
„Dir mag es wie ein grausamer Scherz erscheinen, was ich mir mit dir erlaube", fuhr Ogjyr fort. "Aber erstens: Warum sollte dem Traumhenker und Herrn des Augenmonds als Einzigem die Heiterkeit verboten sein? Ich weiß, viele Sterbliche sind der Auffassung, der Seelentrenner dürfe keinen Sinn für Humor haben. Aber dann wäre meine Existenz trist und langweilig, darum bitte ich um Verständnis, wenn ich mir hin und wieder einen Scherz erlaube, über den nur ich zu lachen vermag." Er kicherte böse, und in seinen Augen blitzte es furchterregend. Dann wurde er wieder ernst. "Und zweitens: Glaubst du wirklich, dass ein Knabe, noch nicht einmal alt genug, um mit auf Seemammutjagd zu gehen, allein der Aufgabe gewachsen wäre, die dein Durst nach Rache dir stellt?" Er schüttelte den Kopf. "Wohl kaum.“
Das schaurige Wesen, zu dem Wulfgarskint geworden war, knurrte ihn an, dann richtete es die knopfartigen Rattenaugen auf den Leichnam seines gefallenen Vaters, der kaum anderthalb Schritt von ihm entfernt lag.
Ein Laut, der wie ein Wimmern klang, drang aus dem mit Raubtierzähnen bewehrten Rattenmaul.
Auf einmal griff Wulfgarskint nach dem Schwert seines Vaters, richtete die Spitze gegen sich selbst und trieb die Klinge mit einem heftigen Stoß bis ans Heft durch seinen neuen, durch Zauberkraft entstandenen Körper. Die Klinge drang auf dem Rücken wieder heraus – aber kein einziger Tropfen Blut tropfte vom Feuerheimer Stahl.
Ungläubig blickte Wulfgarskint an sich herab. Ein durchdringender Wutschrei entrang sich seiner Kehle.
„Ja, brüll du nur!“, rief der Herr des Augenmonds. „Der Handel, den wir miteinander geschlossen haben und dem deine Seele zustimmte, als ich mit ihr heute den ganzen Tag Zwiesprache hielt, ist gültig und kann nicht so einfach außer Kraft gesetzt werden!“
Der untote Rattenmann riss sich das Schwert aus dem Leib, fasste es am Griff und an der Klinge und bog es mit dermaßen gewaltiger Kraft, dass der Feuerheimer Stahl klirrend brach. Beide Teile schleuderte er davon, dann bedeckte er sein Rattengesicht mit beiden Pranken.
„Nach und nach wirst du deine Kräfte entdecken“, sagte der Todverkünder. Er deutete hinauf zum Augenmond. „Und ich werde dich beobachten und mich über deine Bemühungen amüsieren.“
Ogjyr trat auf den Rattenmann zu, der nun neben seinem toten Vater kniete. Seine Hand berührte den Kopf der traurigen Kreatur.
„Dies wird von nun an deine wahre Gestalt sein – bis deine Seele mir dereinst auf den Augenmond folgt, um dort meiner Unterhaltung zu dienen. Aber mir ist schon klar, dass es bisweilen sinnvoll ist, in der Gesellschaft Sterblicher kein Aufsehen zu erregen. Darum gab ich dir die Fähigkeit, zeitweise auch wieder deine alte Gestalt
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