Drachenfedern I - Schicksalhafte Begegnung
Kastanien und Pappeln waren gut und gerne zwanzig bis dreißig Meter hoch und boten im Sommer genug schattige Plätze, um keinen Hitzschlag zu bekommen, wenn man ausgiebig Fußball spielte, und im Herbst tummelten sich hier viele Kinder, die nach den Früchten der Kastanien suchten oder Blätter für ihre Basteleien.
Jetzt stand dort im Schutze eines Schattens etwas Unförmiges, Großes, was zunächst Jonas' Neugierde noch mehr anschürte, als er es jedoch erkannte, schlagartig einen Fluchtreflex in ihm in Gang setzte. Dort stand ein Monstrum von einem Vieh, schwarz, unheimlich im Mondlicht schimmernd, gut fünf Meter hoch, mit langem, kräftigem Kopf und einem Maul mit riesigen Reißzähnen, die sicherlich nicht einmal zuschnappen mussten, um ihn zu verschlingen, ein T-Rex mit gigantischen Flügeln und peitschendem, gezackten Schwanz. Jonas wagte es nicht, einen intensiveren Blick auf dieses Monster zu werfen und legte sofort den Rückwärtsgang ein. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich von diesem Ding zum Abendessen vernaschen zu lassen.
Verdammte Scheiße , fluchte er im Stillen, während er so leise rückwärts schlich, wie er konnte, um es nicht auf sich aufmerksam zu machen. Sein Herz schlug pochend gegen seinen Brustkorb, wollte fliehen, wollte schneller sein, als Jonas' Beine ihn tragen konnten. Sein Atem ging stockend. Nur keinen Laut verursachen, sagte er sich im Stillen. Pures, reines Adrenalin pumpte durch seine Adern, verdrängte alles Blut aus seinem Kopf und aktivierte einen Instinkt, der seit Angedenken in den Menschen herrschte – Flucht.
Schnelle Flucht. So schnell wie möglich, anschließend sofort die Feuerwehr, die Polizei, die verdammte Bundeswehr oder auch gleich die Terrorabwehr anrufen, damit sie dieses … Ding einfingen und unschädlich machten. Er nahm buchstäblich seine Beine in die Hand und rannte davon. Er konnte sich gerade noch davon abhalten, lauthals loszuschreien.
Der Falke folgte ihm, flatterte heftig um ihn herum und versuchte ihn davon abzuhalten, zu fliehen. Jonas wehrte ihn ab, schlug nach ihm, rannte weiter, suchte vor ihm Deckung, wich ihm aus. Je weiter er von dem Ungeheuer wegkam, desto mehr schien sein Verstand wieder zu ihm zurückzukehren und desto stärker machte sich Angst und Panik in ihm breit. Seine Beine wurden schwer und er stolperte ungeschickt über einen Bordstein. Stets aufs Neue flog der Falke ihn an, versuchte ihm den Weg zu versperren, schlug mit den Flügeln nach ihm, kreischte und versuchte, ihn mit seinen scharfen Krallen zu packen und wegzuzerren – ihn, den Menschen. Der Vogel wollte ihn zurück zerren.
Wie lächerlich das klang. Oder auch nicht.
Der Vogel war nichts weiter als ein Lockvogel, der seinem Herrn oder was auch immer das gewesen sein sollte, frische Beute zuschanzen sollte.
In was für einer Welt lebte er plötzlich? Ihm war, als wäre er mit dem Stich der vermaledeiten Feder in eine Parallelwelt gerissen worden, wo harmlose Wildtiere zu Berserkern wurden und Ungeheuer in Form von geflügelten Dinosauriern auf ihn warteten. Und wo er sich nahezu wie selbstverständlich zu einer homosexuellen Gesinnung bekehrte, die für ihn vorher undenkbar gewesen war.
Waren alle verrückt geworden?
Jonas keuchte atemlos, als er endlich bei seinem Wohnhaus angekommen war. Hektisch suchte er in seinen Taschen nach dem Schlüssel. Der Vogel attackierte ihn noch immer, kreischte und schlug nach ihm. Als Jonas die Schlüssel mit zitternden Fingern ins Schloss steckte, sie ihm vor lauter Hysterie aus den Fingern glitten und auf den Boden fielen, setzte sich der Falke wie gewohnt auf das Kellergeländer, ihn abermals genauestens fixierend.
„Scheiße!“, fluchte Jonas. „Such dir ein anderes Häppchen.“ Schnell sperrte er die Türe auf und glitt hinein. Als er sie hinter sich zuwarf, kreischte der Vogel einmal, beinahe verzweifelt, bittend. Jonas war nicht gewillt, nachzugeben. Er würde keine Mahlzeit darstellen, auf keinen Fall. Er hechtete die Stufen hoch und erinnerte sich erst vor seiner Wohnungstüre, dass er eigentlich ein Handy besaß und längst Hilfe hätte rufen können. Drahtig und zitternd vor Adrenalin, fasste er in die Tasche und …
… wäre beinahe mit dem Kopf gegen den Türrahmen geknallt, als ihn unversehens eine Vision überfiel. Jäh wurde er aus dem hell erleuchteten Treppenhaus herausgerissen und in eine fahle Dunkelheit geworfen, in welcher er duftendes Gras, das Bukett süßlicher Blüten und das Rascheln
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