Drachengasse 13, Band 01: Schrecken über Bondingor (German Edition)
Gras feucht gemacht, und der neue Tag ließ sich noch kaum erahnen. Dort, wo die Wiese in den Wald überging, äste ein Braunfelk unbekümmert vor sich hin.
Hanissa gähnte herzhaft. So langsam spürte sie den fehlenden Schlaf. Solange sie die Falle vorbereitet hatten, war die Nacht noch aufregend und voller Abwechslung gewesen. Viel zu spannend, um sie zu verschlafen. Aber nun hockte Hanissa bereits seit zwei Stunden hinter ein paar Büschen und sah dem Gras beim Wachsen zu. Diese Warterei war so langweilig, dass sie immer müder wurde.
Vielleicht fünfzehn Schritte entfernt befand sich der wohl größte Haufen Fleisch aller Zeiten. Rinderhälften, Schweineleiber, ganze Pferde und Grauzicken lagen dort wild übereinandergeworfen. Wann immer der Wind die Nebelschwaden aufriss, konnte Hanissa den Berg aus rohem, totem Getier aufragen sehen. Und sie roch ihn!
„Puh “ , machte sie leise und fächelte sich frische Luft zu.
„Die Ratten ?“ , flüsterte Tomrin, der rechts von ihr hockte.
Hanissa nickte. „Die auch .“
Ausgerechnet Sando hatte darauf bestanden, den Berg mit so viel gestampfter Ratte zu übergießen, wie Osrums Vorratskammern hergaben.
„Euer junger Freund meint, dieser eklige Brei locke den Nachtfresser an“ , murmelte Ritter Ronan. Er lag neben seinem Sohn im Gras und hatte bisher schweigend in den Nebel gestarrt. „Und Osrum hat ihm nicht widersprochen .“
Sando, der Drachenfachmann. Der Gedanke ließ Hanissa leise kichern. Sando lag links von ihr und schnarchte bereits seit über einer Stunde friedlich. Sein übervorsichtiger Onkel hatte ihn gar nicht gehen lassen wollen, war aber von Ritter Ronan beruhigt worden.
Wenige Meter hinter Ronan und den drei Freunden begannen die Reihen der Gardesoldaten. Rings um den Fleischberg verteilt, lagen sie auf der Lauer, im hohen Gras verborgen und die Waffen griffbereit. Alle warteten darauf, dass Fleck ihnen in die Falle ging.
Tomrin grinste. „Feylor von Garsting und seine Monsterjäger wissen nichts von alldem “ , flüsterte er Hanissa zu. „Stell dir nur mal Feylors Gesicht vor, wenn er erfährt, dass sein Ungeheuer gar keins war .“
„Pssst “ , machte Sando tadelnd. Er musste gerade erst wach geworden sein, benahm sich aber so, als habe nur er alles im Griff. „Nicht reden. Sonst hört Fleck uns noch und kommt nicht .“
Tomrin und Hanissa grinsten sich an, schwiegen aber.
Weitere endlos scheinende Minuten verstrichen. Nach und nach wurde es heller, und der Morgennebel begann sich aufzulösen. Dann geschah es.
Hanissa zuckte zusammen, als Tomrins Ellbogen gegen ihre Rippen stieß. „Was denn ?“ , flüsterte sie unwirsch.
Der Junge sah sie warnend an. Kein Wort , formten seine Lippen, und er nickte nach rechts zur Stadtmauer.
Hanissa folgte seinem Blick und erstarrte. Der Großteil der alten Wehrmauer lag noch im Nebel. Nur hier und da lugten die verfallenden Giebel und Dächer des Ostends aus dem weißen Dunst hervor. Doch über dem Tor wurden nun riesige Schwingen sichtbar.
Hanissa schauderte unwillkürlich. Der Nachtfresser!
Das riesige Drachentier war wenig mehr als ein finsterer Schatten. Seine ausgebreiteten Schwingen hoben und senkten sich, während er hinter der Mauer in den Himmel stieg. Seine nur schemenhaft erkennbaren Gliedmaßen, seine Klauen und sein langes Maul voller spitzer Zähne waren verzerrt vom Nebel. Das war kein Drache, sondern vielmehr ein Albtraum von einem Drachen – zumindest ließen die weißen Schwaden ihn so wirken. Und er hielt direkt auf die Wiese jenseits des Osttors zu.
Hanissa sah, wie Ritter Ronans Hand zum Schwertknauf wanderte und die glänzende Waffe zog.
Ronan drehte den Kopf, blickte hinter sich und nickte seinem Stellvertreter zu, der die Gardisten befehligte. Der Mann sah seinen Vorgesetzten an und nickte ebenfalls. Die Garde war bereit für den Einsatz.
Das Geräusch lederner Schwingen näherte sich. Als Hanissa wieder zur Wehrmauer schaute, war der Nachtfresser bereits bis auf wenige Dutzend Meter herangekommen. Zielstrebig steuerte er auf den Fleischberg zu. Hanissa musste plötzlich an Osrum denken. Auch er hockte hier irgendwo im dichten Gras und wartete auf seinen Einsatz. Was er jetzt wohl dachte?
„Ruhig, ganz ruhig “ , presste Ritter Ronan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Hanissa warf dem Ritter einen kurzen Blick zu. Der ist also auch nervös …
Wie ein Raubvogel schoss der Nachtfresser aus dem Himmel herab. Es rauschte, als der riesige Drache
Weitere Kostenlose Bücher