Drachengold: Roman (German Edition)
schleppten sie sich mühsam durch den Dschungel, bis Laurence eines Nachts träumte, er würde Möwen hören, und als er erwachte, drangen tatsächlich ihre schrillen Schreie an seine Ohren. Temeraire stieg in die Luft – und da war ein ganzer Schwarm von ihnen, der in einiger Entfernung herumflog und seine Kreise zog: Dort mündete der breite Fluss in den offenen, endlosen Ozean. Sie hatten das Ufer des Atlantiks erreicht.
Iskierka legte sich in einen durch Ebbe entstandenen Strandsee und schloss ihre Augen; Granby wurde von ihrem Rücken heruntergetragen und im Schatten von Palmen in den Sand gelegt. Temeraire und Kulingile flogen hinaus aufs Meer und kamen einen ganzen Tag und die darauffolgende Nacht nicht wieder zurück. Laurence begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen, doch als er die Hand über die Augen legte und auf die Wellen schaute, sah er eine seltsame Erscheinung am Horizont: eine riesige, missgestaltete Kreatur mit vier Flügeln und ohne Arme und Füße.
»Alle weg vom Ufer!«, schrie er, als das Ding sich näherte. Völlig erschöpft ließen die beiden Drachen am Strand ihre Prise fallen: ein wahres Monster aus der Tiefe – ein blauer Wal, der vielleicht noch nicht ganz ausgewachsen, aber trotzdem beinahe größer als sie beide zusammen war.
»Mann, das Vieh würde zwanzigtausend Pfund bringen, wenn man’s verscherbeln würde, schätze ich«, sagte einer der Matrosen, ein früherer Walfänger, mit gedämpfter Stimme, als jemand eine Degenspitze in das Walfett stieß und es in Scheiben wegschnitt, die beinahe dreißig Zentimeter dick waren. Jeder der Männer bekam ein Stück, und Iskierka verschlang gute zwei Tonnen davon. Temeraire und Kulingile hatten sich bereits unterwegs über ihren Fang hergemacht.
»Ich habe ihn mit dem Göttlichen Wind getötet, als er zum Atmen an die Oberfläche kam, und dann haben wir ihn abwechselnd über Wasser gehalten, damit der andere essen konnte«, erklärte Temeraire schläfrig, während Laurence seine Nüstern streichelte, »denn wir haben uns gedacht, dass wir ihn dann leichter transportieren können. Aber dir, Laurence, kann ich es ja sagen: Ich hatte Bammel, dass er trotzdem noch zu groß wäre. Oh! Ich bin wirklich sehr müde.«
Am nächsten Morgen frühstückte Iskierka eine weitere Riesenportion Walfleisch und -fett und riss sich damit aus ihrem Dämmerzustand, um dann misstrauisch zu fragen: »Wo ist Granby? Warum ist er nicht bei mir?« Und dann sah sie ihn.
»Wenn von euch keiner etwas unternimmt, dann tue ich es«, verkündete sie wild entschlossen, als sie ihre erste Verwirrung darüber überwunden hatte, dass Granby ihr nicht antwortete. Er schaffte es nicht, seine schweren Augenlider vollständig zu heben, und sein Blick war abwesend und unstet vom Fieber und von den Schmerzen. »Er braucht einen Arzt. Und er wird einen Arzt bekommen. Ihr werdet ihn mir unverzüglich auf den Rücken setzen.«
Es gab noch sieben andere Männer, die vom Fieber und von entzündeten kleinen Wunden glühten. Zumeist waren es eher Kratzer gewesen, die sie sich im Vorbeifliegen zugezogen und zunächst gar nicht beachtet hatten, bis die Verletzungen rasch anfingen zu eitern. Zwei der Männer hatte man bereits begraben müssen. Laurence hatte sich noch nicht durchringen können, zur Eile anzutreiben, denn er war sich unschlüssig darüber, was das größere Unheil bedeuten würde: Er hatte schon zu viele Männer unter den Händen von Ärzten sterben sehen. So scheute er das Risiko, das es bedeuteten würde, Granby zu transportieren, nur um ihn an einen Arzt auszuliefern – falls denn überhaupt ein fähiger Mann in der Nähe aufzutreiben wäre.
Aber Iskierkas Entschlossenheit paarte sich nun mit der ernüchternden Erkenntnis, dass es überhaupt keine Wahl mehr zu treffen gab. Sanft legten sie Granby auf eine Trage aus Ästen und verwobenen Schlingpflanzen und deckten ihn mit riesigen Blättern zu, um ihn gegen die Sonne zu schützen. »Ich werde bei ihm bleiben und ihn festhalten, Sir«, sagte Roland, und nicht einmal Temeraire erhob Einsprüche, als sie an Bord von Iskierka kletterte, um dafür zu sorgen, dass Granby abgeschirmt blieb und nicht ins Rutschen geriet.
Sie wandten sich Richtung Süden, und innerhalb eines einzigen Tages erreichten sie Belém: eine kleine Stadt, die sich hinter ihren Mauern duckte und in wildem Alarm die Glocken läuten ließ, als die Drachen in Sichtweite kamen. »Flieg höher!«, schrie Laurence, der erst jetzt daran dachte: Die
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