Drachenkaiser
England infrage. Die Asiaten scheinen sich nach neuen Orten umzuschauen. Aber wir sind wachsam.«
»Wissen Sie, welcher Art sein Schuppenkleid war?«
»Golden, glaube ich.«
Auch das noch, dachte Silena. Dem Dossier nach gehörte der entkommene Drache damit zu den mächtigsten asiatischen Exemplaren.
Brieuc langte nach einem weiteren Brezenstück. »Was wollen Sie von der rotgeschuppten Bestie?«
»Mich auf die Lauer legen«, erwiderte sie. »Sie hat sich den Unmut der Queen zugezogen, die ein höheres Kopfgeld auf sie aussetzte. Havock und ich möchten sie zur Strecke bringen.«
»Die Queen oder Ddraig?«, warf er belustigt ein.
»Mir wäre es lieber, wenn wir die Geschuppte vernichten.« Sie berührte ihn am Arm und erhob sich. »Ich fliege nach England. Achten Sie gut auf die Drachen.«
Er hob die Tasse. »Es gibt ja kaum noch welche. Ich jage lieber Drachenanbeter. Viel Erfolg!« Brieucs Blick fiel aus dem Fenster. »Ach, diese Trottel von Handwerker! Sie werden die Stützen gleich einreißen, wenn sie so weitermachen.« Er sprang auf, nahm im Vorbeigehen seine Garderobe und lief hinaus, quer über den Platz.
Silena zog ihren Mantel an, beglich bei Marie die Rechnung für beide und ging zu ihrem Wagen.
Die Welt drehte sich ein bisschen, die Übelkeit kehrte zurück. Sosehr sie sich anstrengte, ihr wollte nichts einfallen, um weiter an Grigorijs Überleben glauben zu können. Jede noch so kleine Hoffnung zerstob.
Ich trage eine Halbwaise aus. Und die Mörder kenne ich immer noch nicht. Als sie sich auf die Rückbank setzte und das Automobil anfuhr, bekam sie einen Heulkrampf und wollte sich nicht mehr beruhigen lassen. Die Schmerzen der Seele mussten herausgespült werden.
4. Januar 1927, Amsterdam, Provinz Nord-Holland, Königreich Holland
Nie-Lung sah Amsterdam von hoch oben und wusste, dass er die Stadt nicht mochte. Für seinen Geschmack viel zu viel Wasser und kaum eine Möglichkeit, irgendwo unbemerkt zu landen. Wieder muss ich auf die Nacht warten.
Der Drache war gereizt. Zwei Tage war er mit Wu Li unterwegs gewesen, hatte den Chinesen wichtige Botengänge erledigen lassen und die Drachenfreunde mit neuen Instruktionen versorgt. Jetzt musste er seinem wichtigen Verbündeten eine Nachricht zukommen lassen. Abgesehen von dem Vorfall in Hamburg verlief ansonsten alles nach Plan. Mein Herr wird stolz auf mich sein. Ich habe mich seiner würdig erwiesen.
Er kreiste und suchte nach einem Ort, an dem er keine Häuser erkennen konnte.
Wu Li, sagte er zu seinem Diener, wieder einmal benötige ich dich. Du wirst nach Amsterdam gehen, in die Herengracht 356. Sag, dass ich dich schicke, und nenne meinen Namen, vereinbare ein Treffen mit Florin außerhalb der Stadt. Sie ist mir zu belebt. Wenn du dem Kanal folgst, der unmittelbar an die Weide dort drüben grenzt, kommst du zu einem kleinen Hafen. Von da gelangst du nach Amsterdam.
»Ja, Läozi.«
Nie-Lung senkte sich abseits der Stadt auf einer Wiese nieder. Eine Herde Schafe nahm blökend Reißaus vor dem Drachen. Der Mann sprang auf den weichen Boden, verneigte sich vor seinem Herrn und eilte auf den Kanal zu.
Ein guter Diener. Ich werde ihm ein eigenes kleines Grafentum verschaffen, sobald wir Europa eingenommen haben. Nie-Lung sah den Schafen hinterher und spürte seinen Hunger. Er hatte schon lange nichts mehr gegessen. Bleibt stehen und lasst mich euch einmal zählen. Wenn ich dabei einschlafe, werdet ihr leben. Er machte sich an die Verfolgung der Tiere.
Wu Li gelangte an den Hafen, und dort schlich er sich auf einen Frachtkahn, der nach Amsterdam schipperte. Durch die Heimlichkeit ersparte er sich Blicke und Fragen. Und während der Kapitän auf der kleinen Brücke stand und den Kahn steuerte, durchsuchte Wu Li die Kajüten und tauschte sein auffälliges Manegenkostüm gegen ein kurzes weißes Hemd, eine zu kurze schwarze Hose und eine knappe dunkelblaue Jacke; nur seine schwarze Kappe behielt er.
Bald erreichte der Kahn Amsterdam. Die Stadt beeindruckte Wu Li kaum. Für jemand, der in Shanghai, Hongkong und anderen asiatischen Großstädten zu Hause gewesen war, bevor er die Mission angetreten hatte, war Amsterdam sehr beschaulich und verhältnismäßig klein.
Das barg den Vorteil, dass sich seine Suche nach der Herengracht als weniger kompliziert erwies als befürchtet. Vier Stunden nach seinem Aufbruch von der Weide eilte er mit schnellem Schritt die fragliche Gracht entlang, immer die Hausnummern im Blick.
Je näher er der Zahl kam,
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