Drachenkaiser
lassen, er brach in kleinen Brocken unter ihren Sohlen weg.
Nach kurzem Marsch endeten sie vor einem Zaun, auf dem eine dreifache Reihe Stacheldraht saß. Einer ihrer Begleiter nahm eine kleine Zange aus der Ausrüstungstasche und schnitt einen Schlitz in den Zaun, durch den sie sich nacheinander zwängten. Wegen des harten Sands hinterließen sie keine leicht erkennbaren Spuren.
Spärliches Unterholz gab ihnen ein bisschen Deckung – bis sie den Wachturm sahen, der sich vor ihnen keine zehn Meter entfernt erhob und vor dem es steil nach unten ging. Auf der Plattform war jedoch niemand zu sehen.
»Vorwärts, kriechen«, befahl Leida leise. »Bis unter den Turm.«
Sie robbten über felsigen Boden bis an die Kante, über der sich der Ausguck erhob und von dem aus man die gerodete Fläche dahinter überblicken konnte.
Rund um den Eingang in den Stollen war alles an Pflanzen entfernt und betoniert worden. Schienen erinnerten an die Zeit, als Geröll und Rohbernstein mit Loren herausgeschafft wurden. Unmittelbar in die Wand waren vier große Türen eingelassen, hinter denen es laut brummte; aus einer Vielzahl von kleinen Schloten stiegen schwarzgräuliche Qualmwolken.
Gleich vier Rohre verliefen aus dem gewaltigen Tunnel und führten meerwärts zur Tagebauanlage. Gelegentlich hatten sich unter den Nahtstellen der Rohre vereiste Pfützen gebildet.
»Stromaggregate«, sagte Grimson und rückte die abgetragene Mütze auf seinen braunen Haaren zurecht. Sein Glücksbringer. »Sie betreiben damit Pumpen, um das Grundwasser aus den Schächten zu bekommen.«
»Was eine sinnlose Sache für ein Bergwerk ist, das offiziell nicht mehr betrieben wird.« Leida ballte die rechte Hand zur Faust. »Wusste ich es doch! Ein Versteck für die Drachenanbeter.«
»Versteck?« Grimson zeigte nach links, wo ein Haus stand, aus dem Arbeiter ein und aus gingen. »Richtig verstecken kann man sich nicht. Es sei denn, die ganzen Männer da gehören zu Voss.«
»Scheint fast so.« Leida hob das Fernglas und betrachtete sie.
Sie trugen alle schlickverschmierte einfache Kleidung, Gummistiefel und Wachsmäntel, um sich gegen die Kälte und das Wasser zu schützen. Alles in allem sahen sie harmlos aus. Der Sinn des Wachturms erklärte sich ihr nicht ganz.
»Lastwagen«, zischte Grimson. »Von der Einfahrt.«
Gleich darauf kam der Laster angefahren, auf dessen Seite sich die Aufschrift Großschlachterei Libowitz, Königsberg befand. Er hielt schnurstracks auf den Tunnel zu, wendete kurz davor und setzte rückwärts hinein. Der Wind trug ihnen den Geruch von altem, vergammeltem Fleisch zu.
»So transportieren sie ihre Bomben«, vermutete Leida angewidert. »Den Polizisten will ich sehen, der in einen Wagen voller Abfälle steigt, um nach Verdächtigem zu suchen.«
»Was machen wir jetzt, Boss?«, fragte Grimson. »Wir haben noch keinen festen Beweis gesehen. Wir sollten runter und mal in den Stollen schauen oder uns eine von den Ameisen schnappen.«
Leida überlegte nicht lange. »Wir schnappen uns welche. Und gehen in den Stollen.« Sie kroch rückwärts und führte ihre Männer zum Strand, wo der Bernstein an der Oberfläche abgebaut wurde. Hier gab es die unauffällige Kleidung, die sie benötigten. Die derzeitigen Träger würden sie zwar noch daraus entfernen müssen, aber sie hatte keine Zweifel, dass es ihnen gelang. Wir räumen bei Voss ordentlich auf.
[???]Wßk
31. Januar 1927, Hauptstadt Beijing, Kaiserreich China
Silena starrte auf den Kalender, ohne ihn richtig wahrzunehmen.
Ihre Gedanken waren bei ihrer Freundin Leida, von deren Taten sie in der Zeitung gelesen hatte. Großartig! Großartige Leistung! Es wird den Menschen im Kaiserreich die Augen über Voss geöffnet haben.
Jetzt, nach der Entdeckung, die Leida gemacht hatte, erklärte sich so einiges, was bis dahin als Erfolg der Drachentöter des Officiums gefeiert worden war. Ernüchterung und Bestürzung hatten sich in der Folge breitgemacht, und das nicht nur in Deutschland. Man hatte den Drachenanbetern vieles zugetraut, aber eine derartige Raffinesse, eine derartige kriminelle Energie, konspirative Kraft und exzellente Logistik – niemals! Eine sträflich unterschätzte Gefahr. Sogar von mir.
Silena senkte den Blick auf die Zeitung, die ihr Zhiao besorgt hatte; sie war schon einige Tage alt. Sie betrachtete das Bild der Zeppeline, die über Palmnicken schwebten. Fotos von Leida und den anderen Beteiligten gab es nicht oder wurden wegen der schrecklichen
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