Drachenkaiser
um sie hindurchzulassen; einer nach dem anderen glitt ins Innere der Halle. Nur der Spieß, den Ahmat gegen Drachen nutzte, blieb zurück. In einem Gebäude taugte die vier Meter lange Waffe nichts.
Silena kam als Letzte und landete neben Ahmat auf dem Dachboden. Es roch nach Büchern und trockenem Holz, nach Kohlefeuer. Die Rollen und Tontäfelchen, die in Regalen lagerten, waren von einer Schicht Staub bedeckt. Das Archiv der Bibliothek. Gedämpfte Gespräche drangen zu ihnen herauf. Das Chinesische war zu fremd, als dass sie etwas aus den Fetzen hätte ableiten können. Wir hätten Zhiao mitnehmen sollen. Wer weiß, worüber sie sprechen? Er hätte uns helfen können. Und sich opfern. Sie sah auf ihr Amulett. Der Splitter leuchtete noch nicht, und ihre Zweifel erhielten neue Nahrung. Wirkt er überhaupt bei asiatischen Drachen?, durchfuhr es sie.
Ahmat bedeutete ihr, den Ort nicht zu verlassen. Er und die Drachenheiligen schlichen sich den Dachboden entlang bis zu einer Treppe; vorsichtig gingen sie die Stufen hinab.
Das hättet ihr gern. Ich lasse mich nicht abhängen. Silena kroch nach vorne, wo sie eine zweite Luke entdeckt hatte. Von dort konnte sie die Halle einsehen.
Pü Yi saß mit dem Rücken zu ihr an seinem Schreibtisch. Sie erkannte zwei Beamte, die neben ihm standen und ihm auf seinen Zuruf Papierrollen anreichten, die er auseinanderzog, überflog und auf den Tisch legte.
Er sortiert die Berichte. Sie suchte nach Anzeichen bei ihm und den Männern, ob sie ahnten, was geschehen würde, und ob sie den Attentätern eine Falle bereitet hatten. Entweder sie können sich gut verstellen, oder sie wissen wirklich nichts.
Ihr fielen die langen Fingernägel auf, die an Krallen erinnerten, aber dabei äußerst gepflegt waren. Gelegentlich wandte Pü Yi sich an einen der Beamten, und sie sah sein Profil: ein ganz normaler junger Mann, an dem sie nichts Ungewöhnliches erkannte. Er hatte kein kantiges Gesicht, weder war es ausdrucksstark noch energisch. Aber hinter den dicken Brillengläsern loderten Energie und Kraft in seinen Augen.
Silena blickte auf ihren Talisman. Jetzt leuchtete er. Nicht grell, jedoch sichtbar. Der Splitter schimmerte zaghaft, flackerte, als wäre er selbst nicht sicher, was er spürte. Im Herzen ein Drache, nach außen ein Mensch. So hatte es Zhiao ausgedrückt, dachte sie erleichtert. Einer ihrer Zweifel hatte sich in Luft aufgelöst.
Sie kannte Drachen, die ihre Gestalt änderten, aber bei dem Herrscher über das Reich des Drachen verhielt es sich offenkundig anders. Das machte auch ihrem Anhänger zu schaffen. Dabei sieht er wirklich harmlos aus. Aber Pü Yi ist in seinem Innern ein Nie-Lung, ein Drachenfresser und boshafter Drache.
Ahmat hatte ihr klargemacht, dass sie warten sollte. Sie wusste, dass sie das nicht vermochte. Sie war die Nachfahrin des heiligen Georg – wie hätte sie da ruhig bleiben und sich zu einer Zuschauerin degradieren lassen können?
Silena stand auf und ging geduckt die Stufen nach unten.
Pü Yi bearbeitete eine Rolle nach der anderen, der Stapel wurde kleiner und kleiner.
Wo bleiben sie? Wir haben nur noch zwanzig Minuten. Unter Silenas rechtem Fuß ächzte die Stiege leise, und sie blieb stehen. Verdammt!
Die Beamten kümmerten sich nicht darum, die Hand des Drachenkaisers verharrte kurz, die Fingernägel schimmerten matt im Licht der Lampen, aber er wandte sich nicht ihr zu. Gleichmäßig arbeitete er weiter.
Silena gelangte an den Fuß der Treppe und begab sich in den Schutz einer Säule. Sie sah Pü Yi, der keine zehn Meter von ihr entfernt lesend auf einem Stuhl saß. Ihre Unruhe wuchs und wuchs.
Da schwang sich Ahmat über die Brüstung des obersten Stockwerks. Im Flug holte er Schwung und schlug nach dem Drachenkaiser. Mit den Füßen landete er genau auf dem Schreibtisch.
Pü Yi stieß sich vom Tisch ab, der Stuhl kippte, und er rollte sich über die Schulter ab, um gleich darauf auf den Beinen zu stehen.
Doch hinter ihm kamen Ademar und Donatus zum Vorschein, die sich über die zweite Treppe angeschlichen hatten. Sie attackierten ihn gleichzeitig mit ihren Schwertern. Als sich der Drachenkaiser zu ihnen umdrehte, sprang Brieuc von der Balustrade und landete in seinem Rücken, um sofort mit dem Zweihänder zuzudreschen – die lange, schwere Klinge zielte auf den Hals.
Sie lassen Ahmat wirklich allein die Beamten ausschalten! Silena wollte ihr Versteck verlassen, als ihr Amulett aufleuchtete, und das mit einer gleißenden
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