DrachenKind (German Edition)
allen Seiten, aus jeder Richtung des Waldes.
Kapitel 22
Die blaue Farbe. Das Rauschen. Und die Schwerelosigkeit. Was war das? Entweder Leben oder Tod. Es gab nur diese beiden Seiten, zwei Möglichkeiten. Aber es sollte doch immer noch eine geben, war es nicht so? Das Zeitgefühl war das Einzige, was noch übrig geblieben war. Die Schmerzen waren nicht mehr da, sie waren in dem Moment verschwunden in dem er gestorben war. Fast zehn Minuten her. Keine Gedanken, nur Leere. Aber er dachte doch.
Jeder Mensch kann klinisch tot sein und wiederbelebt werden, wenn die Umstände es zulassen. Das hatte er doch im Biounterricht gelernt. Der Unterricht. Dieser Gedankenfluss schien so weit entfernt wie das wenigste Existierende. Alles war zum Greifen nahe, nur die reale Welt, der Menschliche Alltag nicht. Ihm lief die Zeit davon. Der Rekord eines klinisch toten lag seines Wissens bei einer Viertelstunde. Und er hatte schon viele Minuten in dieser Leere verschwendet.
Die Entscheidung fiel ihm schwer. Und selbst wenn er sich für das Leben entschied, er würde es doch nicht führen können. Sein Körper war verletzt, nicht mehr lebensfähig. Wie hätte er das machen sollen? Als Geist war nichts zu verrichten, an keiner Stelle. Er würde nur eine noch leichtere Beute darstellen, und das lohnte sich nicht. Noch kleine vier Minuten, dann würde der Tod sich für ihn entscheiden, nicht andersherum. Sein Hirn brauchte Sauerstoff. Er konnte die inneren Verletzungen sehen. So schwer, dass er kaum erkennen konnte, wo sich was befand. Seine Lungen bis an den Rand mit Blut gefüllt. Er wollte doch leben, aber wie? Er konnte in diesem Zustand der Leere keinen klaren Gedanken fassen, nicht einen. Er dachte gar nicht richtig, seine Gedanken gingen einfach die Wege, die er noch nicht kannte. Allein, ohne seine Kontrolle. Was bot ihm denn sein Leben, was ihm jetzt helfen konnte? Noch zwei Minuten…
Er brauchte doch nur eine Starthilfe oder so was…Energie, die ihn in das Leben zurückholte. Und einen gesunden Körper. Jack hatte doch gesagt, er könne sich entscheiden wie sein Körper aussehen würde. Im Moment entschied er sich für den gesunden, heilen Körper, den er vor dem Mord an ihm noch gehabt hatte. Und die Energie? Die Elemente…Sie mussten ihm helfen, irgendwie. Um ihn herum war doch genau das, was er brauchte; Leben in allen Mengen. Die Bäume, er hatte sie doch atmen gehört. Noch eine Minute und er betete. Er betete um ihre Hilfe, bat um ihre Gnade. Sie waren seine letzte Hoffnung, vielleicht war er ja ihre letzte Hoffnung. Seine Gedanken konzentrierten sich und formten sich aus lauter kleinen, blau leuchtenden Partikeln zu einem Körper, jeder Gedanke stellte eine Zelle dar, genauso, wie die Vereinigung von Körper und Geist es darstellte. Der Wald hatte eine Entscheidung zu treffen, er musste wählen. Wer da auf einer seiner Lichtungen lag und tot war, der war den Gesetzen der Natur gefolgt. Töten oder getötet werden. Und er war der schwächere gewesen, warum eine Ausnahme machen? Jeder hatte diesen Gesetzen zu folgen, jeder und alles Leben. Die letzten dreißig kleinen Zeiteinheiten begannen zu verstreichen. Der Wald war langsam, nahm sich die Zeit die er zum Wachsen gebraucht hatte. Erics Gedanken stoben auseinander, der Körper löste sich auf und ein neuer entstand. Der Drache, in seiner vollen Größe lag tot im Wald, auf einer Lichtung. Das Sonnenlicht prallte von ihm ab, das Leben in ihm war erloschen und verlangte nicht mehr nach Zuwendung der Elemente. Der Wald überlegte es sich anders. Der, der da auf einer seiner Lichtungen lag, war genau das, auf was jeder Baum und jedes Tier seit Jahren gewartet hatte. Die Erlösung, die letzte Hoffnung. Ein paar Bäume zu opfern um genug Energie für die Grundlage eines Lebens zu schaffen war das Mindeste, was sie für ihre Befreiung als Beitrag leisten konnten. Der Boden begann zu pulsieren, langsam und ruhig, immer deutlicher. Durch das Gewirr von Gedankenzellen wurde eine Bewegung erkennbar, eine pulsartige Bewegung. Dann wurde das Rauschen des Windes zwischen den Blättern zu einem Atmen, diesmal für jeden vernehmbar. Der frische Geruch strömte einmal wie ein tiefes Ausatmen aus dem Wald hinaus, dann wieder hinein, tosend wie ein Gewittersturm fegte die Luft Blätter und Äste vom Boden, bildete einen Wirbelsturm mitten auf der Lichtung. Die Blätter der umstehenden Bäume veränderten ihre Farben; von einem saftigen Grün verwandelten sie sich in rote, gelbe und
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