Drachenkinder
Anwar durchbrechen kann«, sagte ich auf der Versammlung, die ich einberufen hatte. Ich klammerte mich ans Rednerpult, und der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn. Anwar stand verlegen neben mir und knetete seine Hände. Genau wie Dadgul damals! Was sollten meine Leute denn noch glauben! »Ihr habt mir alle vertraut und mir euer Geld und eure Zeit geschenkt. In Katachel kann ich mich jetzt nur noch auf die Familie Mahmad verlassen. Das hier ist Anwar. Bitte gebt uns eine zweite Chance.«
Ich senkte den Kopf und wartete, dass sich die Erde auftat und mich verschlang. Aber das hatte sie nicht vor. Erdbeben sind in Bergfeld eher selten.
Als ich mich zitternd wieder zu meinem Platz begab, konnte ich meinen Helfern kaum in die Augen sehen. Ich setzte mich und wartete auf ein winziges Zeichen der Unterstützung, der Ermutigung. Nach allem, was ich schon bewirkt hatte. Auf eine Durchhalteparole. Aber da kam nichts. Nichts als schockierte Stille.
Dann stand Lilo auf, eine der ersten Spenderinnen und gleichzeitig unsere Finanzchefin. Sie umarmte mich. »Sybille, du Ärmste, natürlich stehen wir zu dir. Wir kennen dich, und es wird weitergehen.«
Zitternd klammerte ich mich an Lilo. Der Bann war gebrochen, und alle applaudierten, eben WEIL sie mich kannten. Tränen der Erleichterung liefen mir über das Gesicht.
Wenige Tage später rief Dadgul an: »Mama, ich warne dich zum letzten Mal! Du untergräbst hier ständig meine Autorität! Was fällt dir ein, Tadj anzuweisen, das Geld von der Bank zu holen, die Arbeiter anzuleiten und sich Rechnungen quittieren zu lassen? Wenn sich noch einmal jemand von der Mahmad-Sippe in mein Projekt einmischt, dann rollen hier Köpfe!«
»Die Familie Mahmad hat mein volles Vertrauen«, konterte ich. »Vertrauen, das du unnötigerweise verspielt hast. Tadj verwaltet jetzt unser Geld. Und Anwar wird gerade als neuer Projektleiter eingearbeitet. Er wohnt jetzt in deinem Zimmer, Dadgul.«
Letzteres hätte ich vielleicht nicht sagen sollen. Denn das verletzte nicht nur seine Ehre, sondern auch seine Gefühle. Keine zwei Tage später explodierte in Anwars Hof eine Bombe. Ein völlig verzweifelter Tadj rief an: Ihr Bruder Said hatte in der Neubausiedlung nach dem Rechten schauen wollen. Beim Öffnen der Hoftür war ein Sprengsatz hochgegangen, der ihm die Eingeweide verletzt hatte. Ich wählte mir die Finger wund, um ihn ins Bundeswehrkrankenhaus verlegen zu lassen! Doch die Bundeswehr fühlte sich für einen afghanischen Patienten nicht zuständig. Ein klares Nein. Wieder einmal.
Said bekam im Krankenhaus von Kunduz einen künstlichen Darmausgang, seitdem vegetierte er nur noch vor sich hin.
Dadguls Feldzug gegen mich war in vollem Gange. Meine Verzweiflung war grenzenlos. Ich fühlte mich für »meine« Familie Mahmad verantwortlich! Ich hatte sie zu meinen Verbündeten gemacht!
»Anwar, du musst Sarmina, deine Schwester, so schnell wie möglich verheiraten! Sie muss weg aus Katachel! Sie braucht einen Mann, der auf sie aufpasst!«
»Ach Gott, Sybille«, sagte Micki und schaute mich über seine Brillenränder hinweg prüfend an. »Deine Verheiratungsmaßnahmen sind doch bisher alle nach hinten losgegangen!«
»Aber was soll ich denn machen!«, schrie ich verzweifelt. »Sie ist sonst Freiwild!«
Ich konnte nicht mehr schlafen, kaum noch etwas essen, brach bei jeder Kleinigkeit in Tränen aus. Entsetzliche Selbstzweifel überkamen mich. Ich hatte doch nur helfen, nur Gutes bewirken wollen! Und jetzt wurden Unschuldige mit dem Tod bedroht. Das hatte ich doch alles nie gewollt. Sondern Soforthilfe leisten, schnell und unbürokratisch!
Anwar war lieb und fleißig in der Schule, aber er konnte mir auch nicht helfen. Meist schwieg er nur und zuckte die Achseln, wenn ich ihn verzweifelt um Rat fragte. Ich hatte den Eindruck, dass er sich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen würde.
Es wurde Winter in Bergfeld, und ich wurde ernsthaft krank. Immer mehr igelte ich mich zu Hause ein, fühlte mich kraftlos und schwach. Durch Tränenschleier sah ich in den Garten hinaus, betrachtete die kahlen Bäume, die vom Herbststurm hin und her gebeutelt wurden. Genauso fühlte ich mich auch. Ich betrachtete den braunen Rasen. Wenn ich die Augen schloss, sah ich vor mir, wie Dadgul mit Simon Fußball gespielt, wie ich ihm das Schwimmen und Fischen beigebracht hatte … Mein Blick fiel auf das Auto in der Einfahrt. Mit dem Diaprojektor bewaffnet waren wir gemeinsam voller Tatendrang zu Altersheimen und
Weitere Kostenlose Bücher