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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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sodass man einen Teil der Unterlippe nach oben verpflanzt hatte. Die oberen Zähne gab es auch nicht mehr, die unteren waren gegeneinander verkantet. Aus dem Loch, das der Mund sein sollte, hing die Magensonde, durch die allerhand interessante Flüssigkeiten liefen: Blut, Nasensekret und Speichel.
    »Prima siehst du aus, Dadgul, schon viel besser als neulich!«
    Ich kreuzte die Finger hinter dem Rücken.
    Insgeheim hatte ich erwartet, bei diesem Anblick in Ohnmacht zu fallen, aber nichts dergleichen geschah. Ich glaube, ich hatte mich innerlich zu Dadgul bekannt wie eine Mutter zu ihrem hässlichen Entlein, das ihr irgendjemand ins Nest gelegt hat. (Ich hatte ihn mir ja selbst ins Nest gelegt! Keiner hatte mich gezwungen!)
    Die Freude über unser Wiedersehen überstrahlte all seine Hässlichkeit, und in meinen Augen war er nur noch ein liebenswerter Mensch, um den ich mich kümmern wollte.
    Es klopfte kurz, und Pfleger Syrus schlüpfte ins Zimmer. Er hatte sich mit Dadgul angefreundet und konnte sich erstaunlich gut in ihn hineinversetzen: Kein Wunder, denn sein Bruder Hadji und er waren ebenfalls Flüchtlinge – wenn auch aus dem Iran und ohne Kriegsverletzungen.
    »Wissen Sie, wir müssen ihn motivieren, an der Genesung mitzuarbeiten«, vertraute mir Syrus an. »Ich hab ihn jetzt schon ein paarmal von der Fensterbank gezogen. Er wollte springen. Hinzu kommt, dass er fast stirbt vor Scham, weil die Krankenschwestern ohne Kopftuch mit nackten Armen an ihm rumzupfen«, erklärte mir Syrus. »Bei seinem ersten Versuch zu duschen ist so ein robuster Dragoner reingekommen und hat ihn nackt gesehen. Das ist für einen afghanischen Mann eine unvorstellbare Demütigung!«
    Da musste ich fast schon wieder grinsen. Helfen soll man dir, mein lieber Dadgul, aber bitte ohne Anfassen!
    »Ich weiß, wie wir ihn motivieren können!«, sagte ich zu Syrus. »Gib mir mal seinen Pass.«
    »Warum?« Syrus kramte in Dadguls Kleiderschrank. »Da ist noch sein altes Passbild drin. Von seinem Gesicht im Urzustand.«
    »Eben. Ich lasse es vergrößern, und dann hängen wir es ihm hier an die Wand.«
    »Neben den Spiegel?«
    »Genau. Es gibt doch in Frauenzeitschriften diese Vorher-nachher-Bilder. Wenn das keine Motivation ist!«
    Syrus murmelte achselzuckend was von weiblicher Logik, aber das war mir egal. Ich war mir sicher, dass Dadgul in seiner männlichen Eitelkeit von nun an alles dransetzen würde, um eines Tages wieder so auszusehen wie früher. Er war nämlich wirklich ein gut aussehender junger Mann gewesen.

9
    Bei uns in Bergfeld war Großreinemachen angesagt, als der Oberarzt aus Stuttgart anrief. Mit dem Staubsauger war ich gerade auf Tauchgang unter Simons Bett, sodass ich mir erst mal den Kopf stieß, als ich zum Hörer krabbelte.
    »Grüß Sie Gott, Frau Schnehage! Dadgul wäre nun reisefähig.«
    »Wie schön«, sagte ich. »Nach Afghanistan?« Ich rieb mir die schmerzende Stirn.
    »Wo denken Sie hin!«, rief der Oberarzt entrüstet. »Wir stehen zwischen der sechsten und siebten von schätzungsweise vierzig Operationen! Nein, er braucht jetzt eine Phase der Erholung, und da nannte er mir Ihre Adresse.«
    Ich legte den Staubsauger auf die Erde und setzte mich gleich dazu. »Ach was.«
    »Ja, er schwärmt regelrecht von Ihnen, wenn ich das mal so interpretieren darf!« Der liebe Oberarzt lachte. »Ohne Sie und das Foto neben seinem Spiegel hätte er längst nicht solche Fortschritte gemacht!«
    »Ähm, wann wünscht der Herr denn zu reisen?«
    »Am besten gleich morgen. Wir brauchen hier jedes Bett.
    »Morgen.« Ich pustete eine Staubflocke über den Teppich. »Das kommt jetzt etwas überraschend.«
    »Na, dann übermorgen. Wir setzen ihn in den Flieger. Tschüs Frau Schnehage, und vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft!«
    »Och, dafür nicht«, murmelte ich und rappelte mich auf.
    Schon übermorgen würde dieser … ähm … Kinderschreck hier einziehen. Da hieß es, Vorarbeit leisten.
    Ich beeilte mich, das sogenannte Gästezimmer herzurichten. Es war voller Plunder, und noch während ich putzte und Meister Propper verspritzte (war ich eigentlich bescheuert?), überlegte ich fieberhaft, wie ich unseren zukünftigen Dauergast meinen lieben Kindern schmackhaft machen sollte. Und natürlich Micki: Der hatte ja eigentlich auch noch ein Wörtchen mitzureden. Was, wenn er sagen würde: »Ein süßes Afghanenkind, meinetwegen. Wenn es sein muss auch noch einen kleinen Rahim, der hier Vasen zerdeppert, mit dem Bobbycar

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