Drachenkinder
wollen!«
Nein, wir machten keine Ausnahme. Einmal hatte ich fast vierzig Grad Fieber, Schüttelfrost und keine Stimme mehr. Trotzdem ließ ich Dadgul nicht alleine fahren. Es war UNSER Projekt, und wir zogen das gemeinsam durch. Dadgul schmiss den ganzen Dia-Abend mitsamt einem brillanten, einstündigen Vortrag allein, während ich, in eine Decke gehüllt mit heißem Tee zähneklappernd in der letzten Reihe saß.
Trotz aller Widrigkeiten erfüllte mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als sich nach diesem Vortrag gleich sechs Personen meldeten, die sämtliche Lehrergehalte und die Taxikosten für die Lehrerin aus Kunduz für die nächsten zwei Jahre übernehmen wollten. Wie sagte Micki immer? Kleinvieh macht auch Mist.
Unsere Arbeit trug Früchte. Aber nur so konnte unsere Schule bestehen bleiben. Nur so konnte Bildung in Katachel einziehen, nur so konnten Arbeitsplätze geschaffen werden, und nur so konnten die Mädchen und Frauen in Katachel ein würdiges Leben führen! Nur so konnte ein Umdenken beginnen!
Seltsam!, dachte ich, während ich in meinem Früchtetee rührte und Dadgul vorn seine Dialeinwand einrollte. In einem Vereinshaus in Sportheim Tappenbeck entscheidet sich das Schicksal eines ganzen afghanischen Dorfes.
Ich war stolz auf meine Mitstreiter – und auf Dadgul. Er hatte eine neue, sinnvolle Lebensaufgabe, und er füllte sie aus. Er war Projektleiter, baute sein zerstörtes Dorf wieder auf. Er verwaltete Spendengelder in sechsstelliger Höhe, und eines Tages würde er Ehrenbürger von Katachel sein. (Vielleicht würden sie die Stadthalle nach ihm benennen. Oder das Fußballstadion.) Mein Herz weitete sich vor mütterlichem Stolz.
Und das alles, weil ich damals einen Rollstuhl nach Peshawar geschickt hatte.
Hätte ich nicht solche Gliederschmerzen gehabt, hätte ich mir selbst anerkennend auf die Schulter gehauen.
22
Eines Tages kam eine Fernsehredakteurin mitsamt Kamerateam zu uns nach Bergfeld, um für die Sendung »Hallo Niedersachsen« im Dritten einen kleinen Beitrag zu drehen. Wir waren aufgeregt und stolz wie Oscar, wienerten und putzten das Haus von oben bis unten. Dadgul mähte den Rasen, ich backte einen erstklassigen Apfelkuchen, wir kleideten Dadgul in Wolfsburgs Herrenmodengeschäft ein, und ich leistete mir ein Kostüm. Man filmte Vanessa und Dadgul beim Mensch ärgere dich nicht spielen, Dadgul als Imker mit den Bienen, Dadgul und Simon in VfL -Wolfsburg-Trikots beim Fußballspielen, Dadgul beim Nachbarsschweinestreicheln und mich beim Spendenquittungen sortieren. Wir hatten hundertfünfzigtausend Zuschauer erreicht. Die Regionalzeitung berichtete stolz, Bergfeld habe das Interesse einer breiten Öffentlichkeit geweckt.
Kurz darauf hatten Dadgul und ich unseren ersten Live-Auftritt bei der »Aktuellen Schaubude« mit Sabine Sauer in Hamburg. Der Sender zahlte die Reise und eine Übernachtung in einem richtig tollen Hotel! Welch aufregendes Unterfangen! Die fünf Minuten Redezeit vergingen wie im Flug; und Dadgul meisterte seine Sache brillant. Immer mehr Spenden und Patenschaften tröpfelten bei uns ein.
Und etwas, mit dem ich nie gerechnet hätte: Ein Brief vom Ministerium, in dem stand, dass ich, Sybille Schnehage, für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen worden sei!
Die Kinder, Dadgul und ich tanzten jubelnd durchs Haus, rissen uns das Schreiben gegenseitig aus der Hand und konnten es gar nicht glauben. Als Micki nach Hause kam, las er das Kleingedruckte: Leider kommen nur Personen für das Bundesverdienstkreuz in Betracht, deren Projekte schon länger als fünfzehn Jahre erfolgreich bestehen. Enttäuschung. Fünfzehn Jahre – nein, so lange gab es unser Projekt noch nicht.
Trotzdem erhielt ich ein halbes Jahr später die Verdienstmedaille des Landes Niedersachsen. Überreicht wurde sie mir von Sozialminister Walter Hiller im Auftrag des damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder. Im Gästehaus der Landesregierung in Hannover.
Himmel was war ich aufgeregt! Mitsamt Dadgul und den Kindern, die an diesem Tag einfach mal schulfrei hatten, raste ich, erst noch in praktischen Jeans und Turnschuhen, über die Autobahn nach Hannover. Mein Micki war leider geschäftlich in Stuttgart, und da er selber einen Vortrag halten musste, nicht abkömmlich.
»Mensch Kinder, warum ist denn hier kein Parkplatz!« Nervös kurvte ich durch die Innenstadt von Hannover.
»Ganz ruhig, Mama, Allah wird uns einen frei machen.«
»Aber nicht mit der Kalaschnikow, Dadgul!«
»Da,
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