Drachenkinder
Haus, ein Haus, ein eigenes Haus!«
Noch am Abend vor der Abreise saßen wir über Bauplänen, die ich auf die Schnelle entworfen hatte, und Kostenvoranschlägen am Küchentisch. Nachdem ich ja eine kleine Heimwerkerin bin, war das meine neueste Leidenschaft! Wir bauen Dadgul ein Haus!
Am nächsten Morgen um halb fünf weckte ich den Prinzen aus Zamunda. Natürlich hatte ich bereits geduscht, die Haare gewaschen und geföhnt und ein leichtes Tages-Make-up aufgelegt. Man weiß schließlich nie, was der Tag bringt.
»Dadi, aufstehen! Es wird Zeit, nach Hause zu fahren!«
»Oh, Mama! Ich will nicht! Mir ist auch gar nicht gut …« Der Herr Projektleiter lag noch in den Federn. »Au! Ich kann mich gar nicht – bewegen!«
»Bist du bescheuert? Raus aus der Kiste!«
»Ich muss dir was beichten!«
» WAS ?!«
»Ich hab gestern noch im Dunkeln mit Simon Fußball gespielt, und – ächz, stöhn – muss mir wohl eine Rippe angebrochen haben …«
»Das kannst du deiner Großmutter erzählen!«
»Echt, Mama, ich kann mich kaum rühren!«
»Du-stehst-jetzt-auf-und-fliegst-nach-Scheiß-Af-gha-nis-tan!« Die Spucketröpfchen des mütterlichen Zorns flogen nur so gegen die Nachttischlampe. »Einmal-ist-Schluss-und-du-haust-jetzt-ab! Was meinst du, wie viel dein Ticket und der Fahrservice von VW gekostet haben?« Wegen der Unmengen von Gepäck, und weil wir bei VW gute Beziehungen hatten, war ein VW -Bus mitsamt Fahrer gebucht worden. Alles für den Verein Katachel e . V., gratis, versteht sich. Um unseren Herrn Projektleiter plus leichtem Reisegepäck standesgemäß seinem Projekt zuzuführen.
Murrend quälte sich der Herr Widerstandskämpfer aus dem Bett mit der VfL -Wolfsburg-Bettwäsche und humpelte gefühlte Stunden später mit Leidensmiene die Treppe herunter.
»Tschüs, Simon, Tschüs, Vanessa!« Die beiden hockten schlaftrunken im Pyjama auf der obersten Stufe.
»Mach’s gut, Dadi, vergiss uns nicht!«
»Tut mir leid, dass ich so feste geschossen hab!«, flüsterte Simon heiser hinter ihm her.
»Simon: Wir sprechen uns noch!«
Der Fahrer war schon da! Micki half in der Morgendämmerung, das viele Gepäck zu verstauen. Dadgul schleppte sich, ganz kriegsversehrter Nationalheld, stöhnend ins Hintere des Busses, und ich, Sybille, kletterte aufgekratzt zu Herrn Schmidt, dem korrekt gekleideten Fahrer von VW , auf den Beifahrersitz.
Wie oft war ich in den letzten Jahren zum Frankfurter Flughafen gefahren?
Und, welch ein Glück, wie oft als Ehrengast von VW ? (Danke, Micki!)
Während der Kriegsheld hinten leise röchelnd schlief und seinen großen Aufgaben in Katachel entgegenmeditierte, quasselte ich den armen Herrn Schmidt voll.
»Legen Sie doch Ihr Jackett ab, junger Mann!«
»Ich weiß nicht, ich repräsentiere doch VW ?«
»Ja, aber gucken Sie mich doch mal an!«
Das tat er. Jeans, T Shirt, Anorak, Turnschuhe. (Immerhin. Fönwelle.)
»Okay.« Der junge Herr Schmidt entledigte sich seiner Krawatte und seiner Anzugjacke.
»Na bitte!«, zwitscherte ich. »Butterbrot? Tee? Hartgekochtes Ei?« Ich hielt ihm alles aufmunternd unter die Nase, doch er verneinte höflich.
So erreichten wir nach Stunden den Frankfurter Flughafen.
»Dadgul, wird’s gehen?«
Der Kriegsheld kroch schmerzverzerrten Gesichtes aus dem Wagen, Herr Schmidt besorgte mehrere Kofferwagen, und ich zerrte das ganze Gepäck samt Prothese, Krücken und zusammengeklapptem Rollstuhl für irgendeinen gehandicapten Großcousin Dadguls aus dem Auto.
»Mann, Dadgul! Dass du aber auch so viele Verwandte hast.«
»Ja, Scheiße, Mama. Bei uns in Afghanistan hat man einfach so viele Verwandte.«
»Wir haben Verhütungsmittel«, murmelte ich. »Und immer noch genug Verwandte!«
Nicht auszudenken!, dachte ich. Bei uns gilt ja das Sprichwort: »Freunde kann man sich aussuchen, Verwandte nicht.« Die konnten sich ihre gefühlten hundert Verwandten nicht nur nicht aussuchen! Die lebten auch noch alle unter einem Dach!
»Aber ich kann wirklich nicht mit anpacken. Mir tut echt volle Kanne die Scheißrippe weh.«
Ja, Dadgul war auch vom Wortschatz her einer von uns geworden.
Ich schleppte mich zentimeterweise zum Check-in der Pakistan International Airlines . Herr Schmidt ging im Restaurant etwas essen und seine ihm gewerkschaftlich zustehende Pause halten, und Dadgul trug die Verantwortung.
Am Check-in-Schalter: Gähnende Leere.
»Hallo! Ist hier jemand?!«
Nein. Der Flug war auch noch lange nicht aufgerufen.
Nun. Man hätte etwas bummeln
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